Von Kindern Unbekümmert leben lernen

Beobachtungen aus dem Kindergartenalltag

von Anne Naujoks  |  erschienen in HERRLICH 02|2022  | Seiten 18-21  |  6:26 Min

Wenn ich die Kinder in unserem Kindergarten beobachte, staune ich oft darüber, wie unbekümmert und unbeschwert die meisten von ihnen durchs Leben gehen. Das ist beeindruckend und irgendwie beneidenswert. Denn viele unserer Kinder sind nicht unbeschwert. Sie haben bereits ihr Päckchen zu tragen. Die Sorgen von zu Hause: Streit zwischen den Eltern, Trennung, Fluchterfahrungen, Armut, Arbeitslosigkeit der Eltern, Krankheiten, Überforderungen. Diese Belastungen nehmen wir tagtäglich wahr. An manchen Tagen sind die Kinder sehr „dünnhäutig“ und brauchen besonders unsere liebevolle Begleitung und viel Verständnis. Aber wir merken auch, dass die Kinder häufig in der Lage sind, trotz allem unbekümmert in einen neuen Tag zu starten. Vielleicht können wir manches von ihnen lernen. 

Kinder sind ehrlich

Meistens erkennt man bei Kindern schnell, in welcher Stimmung sie sind: fröhlich, traurig, ängstlich, mutig, wütend, gelangweilt ... Selbst wenn sie noch nicht darüber sprechen können, zeigen Kinder an ihrem Verhalten und ihrer Mimik, wie es ihnen geht, was ihnen gefällt oder nicht. Es liegt an uns Erwachsenen, dies zu erkennen, es, wenn nötig, zu übersetzen und angemessen darauf zu reagieren. Wir ermutigen unsere Kinder mehr und mehr dazu, ihre Gefühle auszudrücken und auf die Gefühle anderer zu reagieren. Dafür nehmen wir uns bewusst Zeit, beispielsweise im Morgenkreis mit den Kindern: Die Kinder zeigen ihre Stimmung anhand eines „Gefühlsbarometers“ oder sie machen durch Bilder von „Gefühlsmonstern“ klar, wie es ihnen geht.

Ältere Kinder sagen schon sehr deutlich und ohne Umschweife, was sie beobachten und denken. Dabei sind sie nicht unbedingt diplomatisch. Sie legen ihre Worte nicht auf die Goldwaage. Alles ist so gemeint, wie es gesagt wird, frei von Sarkasmus und Ironie. 

Kinder sind feinfühlig

Auch wenn Kinder offen, ehrlich und manchmal sehr direkt sind, haben sie dennoch ein feines Gespür für Stimmung und Atmosphäre. Im Kindergartenalltag erkennen wir nicht selten am Verhalten selbst der jüngsten Kinder, welche Atmosphäre beispielsweise zu Hause herrscht, inwieweit es dort Veränderungen, angespannte oder entspannte Zeiten gibt. Die Kinder nehmen auch die Atmosphäre im Kindergarten wahr. Gerade in stressigen Situationen erleben wir häufig, dass die Kinder uns auf ihre Art unterstützen, rücksichtsvoll sind, sich gegenseitig helfen und mit anpacken. 

Kinder können sich streiten

Im Kindergarten gibt es täglich Streit. Das ist normal, wenn Kinder aneinandergeraten. Dabei kann es auch lautstark und handgreiflich zur Sache gehen. Und nicht selten gibt es am Ende Tränen. Aber Streit ist wichtig. Die Kinder lernen, für die eigenen Interessen einzustehen, Grenzen zu setzen und gleichzeitig auch das Gegenüber mit seinen Interessen und Grenzen wahrzunehmen. Hierbei bekommen die Kinder Unterstützung durch die Pädagog*innen. Sie haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich alle Beteiligten gehört und verstanden fühlen und keine vorschnellen Urteile getroffen werden. Es ist schön zu sehen, wie manche Kinder in der Lage sind, einen Streit gut alleine zu klären und Kompromisse zu finden. Sie diskutieren miteinander und suchen nach gemeinsamen Lösungen, die für alle akzeptabel sind.

In den allermeisten Fällen gibt es nach einem Streit zwischen Kindern eine schnelle Versöhnung. Manchmal ist dafür ein symbolischer Handschlag oder einfach nur das Wort „Entschuldigung“ nötig. Schon kurze Zeit später kann wieder friedlich und fröhlich miteinander gespielt werden. Die Kinder sind meistens nicht nachtragend und geben sich gerne gegenseitig eine zweite Chance.

Kinder haben keine Vorurteile

Wenn Kinder sich begegnen, liegt der Fokus in erster Linie auf den Gemeinsamkeiten. Das können ähnliche Interessen und Spielvorlieben sein, aber auch schlichtweg die gleichen Frühstücksboxen oder Gummistiefel. Schon hat man eine gemeinsame Ebene. Unterschiede werden sehr wohl wahrgenommen, spielen aber meiner Erfahrungen nach zunächst keine bedeutende Rolle. Für die Kinder ist es selbstverständlich, dass es Menschen gibt, die „irgendwie anders sind“, aber sie gehören dazu, werden angenommen und einbezogen. Alle Kinder wollen und sollen nicht am Rand, sondern mitten im Leben stehen. Leider bleibt das nicht immer so. Kinder orientieren sich an den Erwachsenen in ihrem Umfeld, in erster Linie an ihren engsten Bezugspersonen (meistens den Eltern), aber auch z. B. an den Pädagog*innen im Kindergarten. Sie nehmen das Verhalten der Erwachsenen mit großem Gespür wahr und hören aufmerksam ihre Bemerkungen. Davon werden sie geprägt. Auch in Bezug auf Vorurteile. Wenn die Kinder an den Erwachsenen eine eher misstrauische Haltung wahrnehmen oder einen leicht dahin gesagten Halbsatz aufschnappen, mit dem andere Menschen ausgegrenzt werden, so machen sie sich das zu eigen. Und verlieren vielleicht ein wenig ihrer Unbekümmertheit. Ein Grund mehr für uns, im Umgang mit anderen Menschen feinfühlig und aufmerksam zu sein.  

Kinder sind Forscher*innen

Kinder lieben es, Dinge zu entdecken und auszuprobieren. Wohin geht der kleine Feuerkäfer? Hat eine Spinne tatsächlich acht Beine? Wie breitet sich das Wasser aus, das ich auf dem Tisch vergieße? Kann ich mit der Schere wirklich alles schneiden? Ihr Forscherdrang ist ein hohes Gut. Die Kinder lernen beim Entdecken und Ausprobieren. Sie sind begeisterungsfähig und phantasievoll und überraschen uns mit ihren originellen Einfällen. Es ist schön zu sehen, dass viele Kinder Neuem gegenüber erst einmal aufgeschlossen sind. Wenn wir ihnen den Raum dafür geben und ihnen etwas zutrauen, können sie offen und neugierig ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Manche Kinder sind wagemutig und abenteuerlustig. Sie vertrauen blind darauf, dass ihnen nichts passiert - nicht zuletzt, weil wir Erwachsenen da sind und uns darum kümmern. Dieses Urvertrauen sorgt für Unbekümmertheit. Erst negative Erfahrungen und Erlebnisse führen zu einer größeren Vorsicht und dazu, das eigene Handeln einzuschätzen und zu überlegen.

Kinder sind Beziehungsmenschen

Kinder kommen meistens recht unkompliziert in Kontakt mit anderen Kindern, aber auch mit Erwachsenen – die einen schnell und ganz ohne Scheu, die anderen, nachdem sie Zeit zum Beobachten und Kennenlernen hatten. Wir können das Vertrauen der Kinder gewinnen, wenn wir sie ernst nehmen, ihnen zuhören und sie mit unseren Herzen ansehen. Dann lassen sie uns ihre Seele durchschimmern. 

„Kinder sind eine Gabe Gottes“ (Psalm 127,3). Sie besitzen den Charme der Unbekümmerten – auch für uns unter unseren Kummerwolken und Kummerbergen. Wir dürfen sie ein Stück ihres Weges durchs Leben begleiten und von ihnen lernen.

Jesus selbst hat das formuliert: 
„Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn solchen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ 
(Markus 10,14-16
)

  

Anne Naujoks ist Sozialpädagogin und leitet die KITA „Kleine Oase“ in der großen Stadt Berlin. Sie liebt Bücher und kann jederzeit und an jedem Ort unbekümmert lesen.