Die vielbunte Weisheit Gottes

Eine Predigt zu Epheser 3,10

von Rainer Oechslen   |  erschienen in HERRLICH 02|2022  | Seiten 38-41  |  8:33 Min

Predigt beim Landjugendgottesdienst am 1. Sonntag nach Trinitatis, 19. Juni 2022, in Schönbronn.

Liebe Gemeinde, an diesem Festtag möchte ich mit euch einen einzigen Satz aus dem Brief an die Epheser bedenken. Genau genommen ist es nur ein Nebensatz und in dem Nebensatz ein einziges Wort.

Im 3. Kapitel des Epheserbriefes scheibt ein Student des Apostels Paulus:

„So soll jetzt kundwerden die mannigfaltige Weisheit Gottes den Mächten und Gewalten unter dem Himmel durch die Gemeinde.“ 
(Epheser 3,10)

Das Wort, auf das es mir ankommt, heißt „mannigfaltig“. Im griechischen Text steht da: „polipoikilos“. Poikilos wäre schon viel. Nach dem Wörterbuch heißt es: „verschiedenartig, bunt, gefleckt“, manchmal auch „vieldeutig“. Nun kommt aber noch ein „poli“ dazu. Das Wort kennen wir zum Beispiel vom Polyester. Die Weisheit Gottes ist also „vielbunt“ oder „höchst verschiedenartig“.

„Vielbunt“ ist der Regenbogen, „vielbunt“ ist unsere fränkische Landschaft in diesen Wochen, „vielbunt“ ist Gottes Weisheit.

Am Freitag ist mir ein kleiner Zeitungsartikel in die Hand gekommen. Da heißt es: „Ich weiß nicht, wie viele Grüntöne Sie unterscheiden können. Aber laut dem Deutschen Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung gibt es mehr als 400 verschiedene. Darunter: Smaragdgrün, Olivgrün, Flaschengrün, Schilfgrün und Maigrün.“ Dann geht es weiter: „Die Physik sagt, dass Grün der Farbreiz ist, den das menschliche Auge wahrnimmt, wenn das Licht mit einer spektralen Verteilung ins Auge fällt, bei der fast nur Wellenlängen zwischen ungefähr 490 und 570 Nanometern vorkommen.“ (SZ-Magazin vom 17.6.22)

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie lang ein Nanometer ist. Vermutlich ziemlich kurz. Aber so viel habe ich verstanden: Mit meinen drei altbackenen Farbstufen Hellgrün, Dunkelgrün und Lindgrün komme ich nicht durch, wenn ich Gottes bunte Welt wahrnehmen möchte. 400 und mehr Farbschattierungen gibt es bereits beim Grün. Wieviel sind es dann erst mit Blau, Rot, Gelb, Braun und Violett?

Ich liebe die türkische Sprache auch deshalb, weil sie die Farben steigern kann. „Sari“ ist Gelb und „sapsari“ ist ein leuchtendes Gelb. „Mavi“ ist blau und „masmavi“ ist so unendlich blau wie der Himmel an einem strahlenden Tag.

„Türkisch“ ist jetzt mein nächstes Stichwort. Denn Gottes Weisheit ist vielbunt nicht nur in den Farben, die wir sehen, sondern auch in den Menschen, die uns begegnen, und in ihrem Glauben. Die letzten 14 Tage verbrachte ich in der Türkei. Von drei Begegnungen will ich erzählen. 

Die erste war am Dienstag nach Pfingsten. Ich saß auf dem Flughafen Istanbul und wartete auf den Flieger nach Osten, da erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von Yağmur. „Yağmur“ heißt eigentlich „Regen“. Es ist aber auch ein Frauenname. Man kann sich vorstellen, wie heiß ein Land ist, in dem Eltern ihrem kleinen Mädchen einen schönen Namen geben wollen und es dann Yağmur nennen, Regen. Im November hatte ich Yağmur kennengelernt. Ich hatte „Istanbul Modern“ besucht, ein Museum für zeitgenössische Kunst. Yağmur hatte mich auf Englisch angesprochen und gefragt, ob sie mir im Auftrag des Museums einen Fragebogen vorlegen dürfe. Ich antwortete ein paar Brocken auf Türkisch – wirklich gut kann ich die Sprache immer noch nicht. Aber Yağmur war begeistert und redete nun viel in ihrer Muttersprache, wobei ich bei Weitem nicht alles verstand. Als sie fragte, was ich von Beruf sei, sagte ich „Protestan rahibim“ – „Ich bin evangelischer Pfarrer“. Erst konnte sie damit nichts anfangen. Ich fügte hinzu, dass ich so etwas Ähnliches wie ein Hoca sei, ein islamischer Geistlicher, nur eben christlich. Ich war sicher der erste Pfarrer, dem sie begegnete. Sie verstand und fragte, ob ich denn auch beten könne. Nun ja – was antwortet man darauf? Kann ich wirklich beten, also mit ganzer, inniger Hingabe an Gott? Aber das zu erklären, reichte mein Türkisch nicht. Also sagte ich einfach „Ja“. „Wären Sie denn bereit, auch für mich zu beten?“ Ich sagte wieder „Ja“, versprach, für sie zu beten, und gab ihr für alle Fälle meine Handynummer. Seither hatte ich nichts mehr von ihr gehört.

Nun kam Yağmurs erste Nachricht. Sie fragte, wo ich sei und ob ich direkt jetzt für sie beten könne. Ich war allein, konnte also. Yağmur hatte beim Kunstmuseum gekündigt und sich für eine neue Stelle auf dem Flughafen beworben. Sie freute sich sehr, als sie las, dass ich selbst am Flughafen sei und nun einfach beten würde 

Es ist nur eine kleine Geschichte aus der Türkei. Warum eigentlich wurde ich in Deutschland noch in keinem Museum gefragt, ob ich beten kann? Vielleicht sollte ich wieder einmal in Nürnberg ins „Germanische“ gehen. 

Die zweite Geschichte: Am nächsten Tag waren wir in Mardin, einer Stadt weit im Osten, nahe an der Grenze zu Syrien. Mardin hat eine schöne Altstadt mit Mauern in leuch­tenden Beige- und Brauntönen. Viele Kirchen gibt es in dieser Stadt, denn einstmals, vor den großen Auswanderungswellen, lebten hier viele Christen. In einer Seitenstraße fanden wir eine kleine evangelische Kirche. Sie war geöffnet, Besucher kamen und gingen. Ein Christ, der aus Sri Lanka in die Türkei gekommen war, erzählte uns die Geschichte der Gemeinde. In den 1860er Jahren hatten Missionare aus den USA die Gemeinde gegründet. 1960 gab es in der Türkei einen Militärputsch. Die Generäle hatten es nicht mit der Religion und ließen die Kirche schließen; Jahrzehnte stand sie leer. Aber vor fünf Jahren wurde sie wiedereröffnet. Man kann der Regierung Erdoğan leider vieles vorwerfen, aber nicht, dass sie die Christen schlecht behandelt. Die meisten Gemeindeglieder kommen aus dem Islam und haben sich als Erwachsene taufen lassen. In der Türkei ist der Übertritt zum Christentum nicht verboten, die Religion steht auch nicht mehr im Ausweis. Wenn es Widerstand gibt gegen einen solchen Schritt, dann kommt er von den Verwandten der Taufbewerber.

Ich fragte nach der Sprache in der Gemeinde, denn in der Region um Mardin werden viele Sprachen gesprochen: Türkisch natürlich, Kurdisch, Arabisch und Süriyani oder Assyrisch, die Sprache der syrisch-orthodoxen Christen. Früher sprach man auch noch Armenisch in der Stadt. Auf dem Amtsgebäude des Gouverneurs steht die Aufschrift in vier Sprachen und drei Schriften. Ich erfuhr: Die Gottesdienste der Gemeinde werden auf Türkisch gehalten. Aber unser Führer schenkte mir sogleich ein Neues Testament auf Kurdisch. Ich kann es nicht lesen – aber wer weiß, wann ich es einmal brauchen kann. Auch die Welt der Sprachen ist vielbunt.

Die letzte Begegnung war am vergangenen Dienstag. Ich war wieder in Istanbul und ein katholischer Freund lud mich ein zu einer Wallfahrt zum Grab des Josua, des Nachfolgers Moses. Es liegt an der Stelle, wo die Wasser des Schwarzen Meers in den Bosporus fließen. Es ist ein schöner, stiller Ort, wo Muslime in Ruhe beten.

Auf dem Rückweg vom Grab und vom Gebet sah ich einen offenen Wagen, wie man ihn auch bei uns auf der Kirchweih findet, wenn zum Beispiel gebrannte Mandeln verkauft werden. In dem Wagen wurde Gebäck in schwimmendem Öl ausgebacken und verteilt, so wie man bei uns die Kirchweihküchlein bäckt und verteilt – oder früher verteilt hat. An der Oberseite des Wagens aber stand eine Leuchtschrift mit einem Namen und einer Aufforderung. Ich weiß den Namen nicht mehr genau. Sagen wir, er hieß Hasan Ali Yücel. Der war eigentlich Unterrichtsminister der Türkei von 1938 bis 1946. Dieser Minister hat viel Gutes getan. Deshalb nehme ich jetzt einfach seinen Namen. Da stand also: „Hasan Ali Yücel ruhuna Fatiha.“ Auf Deutsch: „Betet eine Fatiha für die Seele von Hasan Ali Yücel.“ Die Fatiha ist so etwas wie das islamische Vaterunser. Da war also ein Mensch verstorben. Seine Angehörigen forderten die Vorübergehenden auf, für den Toten ein Gebet zu sprechen. Als Dank bekamen die Beter und Beterinnen ein wenig Gebäck. Ähnliches habe ich oft erlebt in islamischen Ländern.

Eine lange Reihe von Menschen stand vor dem Wagen – nicht, weil die Leute Hunger hatten. Die wirtschaftliche Lage in der Türkei ist zwar sehr schlecht, aber Hunger haben die meisten Leute noch nicht. Doch zu einem Gebet für die Toten sind viele Muslime immer bereit, auch wenn sie die Verstorbenen nicht gekannt haben. Ich wollte mich auch einreihen. Eine Fatiha hätte ich nicht gesprochen, sondern ein Vaterunser. Ich weiß, ich wäre willkommen gewesen. Leider eilte unsere kleine Gruppe zur Bushaltestelle. Der Bus kam dann sehr lange nicht. Ich erfuhr wieder einmal: Man soll keine Gelegenheit zum Gebet auslassen.

Drei Erfahrungen aus den letzten zwei Wochen habe ich erzählt – drei Erfahrungen mit der vielbunten Weisheit Gottes, des Gottes, dessen Weisheit nicht nur die Christen berührt, sondern auch die Muslime und alle anderen Menschen. Grenzenlos ist Gottes Weisheit. Sie hat nicht nur 400 Farbschattierungen, sondern 40.000 und 40.000 mal 40.000.

Meine Geschichten kommen aus der Welt der Religionen und Sprachen. Aber eines will ich noch hinzufügen, etwas, was ich gelernt habe in meinen 42 Jahren als Pfarrer: Auch in der Sexualität der Menschen gibt es viele Schattierungen, heterosexuelle und homosexuelle. Nichts ist verwerflich an dem Leben und der Liebe, die Gott gegeben hat. Verwerflich sind nur die Lüge und die Gewalt und Lieblosigkeit.

Wir danken Gott für die vielen Farben 
unseres Lebens und feiern die vielbunte 
Weisheit Gottes.

Großer Gott, wir loben dich:
Herr, wir preisen deine Stärke.
Vor dir neigt die Erde sich
und bewundert deine Werke.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. 

  

Rainer Oechslen, Jahrgang 1955, ist Pfarrer im Ruhestand. Er war von 2007-2022 Beauftragter für interreligiösen Dialog und Islamfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.