Krisen, Kriege, Katastrophen

Trotzdem unbekümmert leben?

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Von Volkmar Hamp | erschienen in HERRLICH 02|2022, Seiten 12-15  |  7:10 Min 

Unbekümmert leben – wie soll das gehen in dieser Zeit?

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts fiel mir das noch leicht. Ich hatte das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas miterlebt. Und die Wiedervereinigung Deutschlands. Aufbruchsstimmung überall. Sie überlagerte das, was auch in diesem Jahrzehnt beängstigend und bedrückend war.

Und ich war jung. Mein berufliches Leben hatte gerade erst begonnen. Was sollte mich bremsen?

Die Jahrtausendwende bescherte mir zunächst eine persönliche Krise: das Scheitern meiner Ehe. Nicht die ersten Risse in meinem positiven Selbst-, Menschen- und Weltbild, aber bis zu diesem Zeitpunkt die tiefsten. Andere Menschen und meine Arbeit im Gemeindejugendwerk halfen mir darüber hinweg.

Dann kam der 11. September 2001. Vier vom islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida verübte Flugzeugentführungen mit anschließenden Selbstmordattentaten auf symbolträchtige zivile und militärische Gebäude in den Vereinigten Staaten von Amerika erschütterten die Welt. Sie erschütterten auch mich. Fast 3.000 Menschen wurden an diesem einen Tag ermordet.

Die Folgen von 9/11 für das Verhältnis des Westens zur arabischen Welt waren verheerend. Hunderttausende verloren in den anschließenden Kriegen in Afghanistan und im Irak ihr Leben. Weitere Terroranschläge folgten. Auch in Europa. Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit, religiöser Fundamentalismus, politischer Extremismus und hemmungsloser Populismus machten sich breit.

Doch 9/11 war nur der Auftakt für zwei Jahrzehnte mit vielen weiteren Krisen, Kriegen und Katastrophen. Ich erinnere nur an die Finanzkrise (2008), die Eurokrise (2010), das Scheitern des „Arabischen Frühlings“ (2010), den Bürgerkrieg in Syrien (seit 2011), den Ukraine-Konflikt (seit 2014), die Flüchtlings-, Migrations- oder Asylkrise (seit 2015), die Militärintervention im Jemen (seit 2015), den Brexit (2020), die Corona-Pandemie (seit 2020), die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan (2021) und den offenen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit all seinen Begleiterscheinungen (2022).

Und über alledem schwebt – als Megakrise des 21. Jahrhunderts – der von uns Menschen verursachte Klimawandel. Dürren, Waldbrände, Überflutungen und vieles andere mehr haben ihn in den letzten Jahren mehr und mehr spürbar gemacht. Sollte es nicht gelingen, den Anstieg der weltweiten Temperatur zu begrenzen, steuern wir auf eine globale „Heißzeit“ zu, die nicht nur zu katastrophalen Lebensbedingungen für große Teile der Menschheit führen, sondern deren Aussterben zur Folge haben könnte (Latif / Plöger).

Kann man angesichts dessen heute noch unbekümmert leben?

Ich muss gestehen: Mir fällt das schwer!

Ich kenne Menschen, denen scheint das besser zu gelingen als mir. Manche leugnen, manche verdrängen, manche ignorieren die Fakten. Andere gehen schlicht davon aus, dass es schon nicht so schlimm kommen wird wie befürchtet. Wieder andere konzentrieren sich einfach auf ihr eigenes kleines Leben, in dem nach wie vor die positiven Erfahrungen überwiegen.

Mir gelingt das oft nicht. Zumal sich mit dem Älterwerden auch das eine oder andere gesundheitliche Problem einstellt. Weltschmerz und persönliche Sorgen treffen aufeinander. Und manchmal verstärken sie sich gegenseitig.

Dabei bin ich mir der Gefahr bewusst, dass die Sorge um die Zukunft zu einer übergroßen, erdrückenden Last werden kann. Ich glaube allerdings auch, dass es nicht weiterhilft, diese Sorge zu verdrängen. Auch das beeinträchtigt die mentale Gesundheit.

Was hilft?

Achtsamkeit
Mir hilft es, achtsam mit meinen Gedanken und Gefühlen umzugehen. Sie auf der einen Seite bewusst wahrzunehmen und zuzulassen. Sie dann aber auf der anderen Seite auch wieder loszulassen und mich auf Dinge zu konzentrieren, die mir Freude bereiten und mir guttun.

Konzentration
Mir hilft auch, mich nicht vorrangig mit Dingen zu beschäftigen, auf die ich keinen oder nur sehr wenig Einfluss habe, sondern mich auf das zu konzentrieren, was ich ändern und beeinflussen kann. Das ist mehr, als man auf den ersten Blick denkt! Ich kann etwas für meine Gesundheit, für mein körperliches und geistiges Wohlergehen tun. Ich kann meinen eigenen ökologischen Fußabdruck verkleinern. Ich kann im Rahmen meiner Möglichkeiten Einfluss nehmen auf andere Menschen. Ich kann gesellschaftliche und politische Entwicklungen unterstützen, die etwas zum Positiven verändern.

Spiritualität
Mir hilft mein Glaube! Das Vertrauen darauf, dass letztlich Gott diese Welt, seine Schöpfung, zu der auch ich gehöre, in seinen guten Händen hält. Diese Hoffnung beruht nicht darauf, dass der Mensch „im Grunde gut“ ist (Bregman), dass wir als biologische Wesen darauf programmiert sind, unseren Nachwuchs zu schützen und am Ende darum auch uns selbst und diese Welt retten werden. Diese Hoffnung beruht darauf, dass Gott gut ist und in seiner Güte versprochen hat, seine Schöpfung zu bewahren und zu vollenden (Gen 8,22; Offb 21,1-5).

Das meint Jesus, wenn er vom Kommen des „Reiches Gottes“, der „Gottesherrschaft“ spricht (Mk 1,15). Als Christ glaube ich, dass diese „Herrschaft Gottes“ in der Person Jesu von Nazareth bereits angebrochen ist. Er ist „das Reich Gottes in Person“ (Moltmann). Sich an ihm zu orientieren bedeutet, der Gottesherrschaft im Hier und Jetzt Raum zu geben: das Heil zu mehren und dem Unheil zu wehren.

Weggemeinschaft
Das kann und soll ich als Einzelner tun. Mir aber tut es gut, dabei nicht allein, sondern mit anderen gemeinsam unterwegs zu sein. Mit Freunden und Freundinnen und vielen anderen Menschen. Deshalb freue ich mich, dass wir als Kirche – von den Gemeinden vor Ort bis zur weltweiten Ökumene – eine „Weggemeinschaft“ sind.

Der tschechische Theologe Tomáš Halík hält dafür vier ekklesiologische, also „die Kirche betreffende“ Konzepte für wegweisend: 1. die Auffassung der Kirche als des Volkes Gottes, das durch die Geschichte pilgert, 2. die Auffassung der Kirche als einer Schule des Lebens und der Weisheit, 3. die Auffassung der Kirche als eines „Feldlazaretts“ und 4. die Auffassung der Kirche als eines Ortes der Begegnung und des Gesprächs, des Dienstes der Begleitung und der Versöhnung (Halík 253-267). Ich bin dankbar, dass ich meine Kirche an vielen Stellen so erlebe.

Doch „Weggemeinschaft“ finde ich nicht nur in der Kirche. Ich finde sie auch bei Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen, bei Agnostikern und Atheisten, die mit mir den Wunsch teilen, kommenden Generationen eine Welt zu hinterlassen, auf der es sich einigermaßen unbekümmert leben lässt. Das bedeutet mir viel. Denn auch das hilft mir, trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen eine kleine Portion Unbekümmertheit zu behalten.

 

 

Volkmar Hamp ist Referent für Redaktionelles in der GJW-Bundesgeschäftsstelle in Elstal und Gemeindeleiter der Baptistenkirche Wedding in Berlin. Unbekümmert zu leben fällt ihm grad nicht immer leicht ...