Lebe wild und gefährlich!

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von Tom Schönknecht  |  erschienen in HERRLICH 02|2022  | Seiten 22-25  |  7:40 Min

Gerade komme ich ganz frisch aus dem Wald. Zusammen mit ein paar anderen Männern und unter professioneller Anleitung war ich auf einer Visionssuche: Es ging darum, herauszufinden, wie die nächsten Schritte beschaffen sind – für mich als Mensch, Vater, Ehemann, Pastor. Was gerade dran ist – auch in meiner Gemeinde, die wie so viele von Corona arg durchgeschüttelt wurde. Anstatt mir dazu kluge Vorträge und gescheite Tipps anzuhören, wollte ich in die Natur gehen und von Gottes Schöpfung lernen. Schließlich haben das auch viele biblische Personen so getan – in die Wüste gehen, sich unter einen Rizinusstrauch oder Ginster setzen und einfach abwarten, was passiert. 

Unbeschwert leben – das ist meine Sehnsucht. Aber während ich ein paar Tage zwischen Bäumen, Mücken und Mäusebussarden ohne jede zivilisatorische Möglichkeit der Zerstreuung lebte, wurde mir klar: Du wirst hier nicht wie erhofft mit dem fertigen Masterplan für dein Leben rausgehen. Denn da steht dir etwas im Weg, etwas Massives. Du machst dir einfach zu viele Sorgen, um die Dinge unbeschwert angehen zu können. Sorgen. Nicht nur ein paar von diesen kleinen, lästigen, die sich leicht einmal wegschieben lassen. Sondern es tauchen immer wieder richtig dicke Brocken auf, die dich beschäftigen und dich so kontinuierlich davon abhalten, unbeschwert ins Weite, ins Leben, in die Zukunft zu denken, zu spüren und zu planen. Irgendetwas ist immer, das die Unbeschwertheit beschwert. Am liebsten würde ich all diese Sorgen ja einfach ignorieren und beiseiteschieben. Aber das klappt irgendwie nicht. Es ist so, als ob man versuchen würde, Korken unter die Wasseroberfläche zu drücken: ein sinnloses Unterfangen. Ständig ploppt wieder etwas auf – egal, was man auch versucht. 

Aber ich wünsche es mir doch so sehr, dieses leichte, unbeschwerte Leben! Will keine Grübeleien mehr, die so anstrengen, verschließen und ermüden. Damit muss Schluss sein! Scheinbar muss ich dafür aktiv etwas tun und investieren. Okay, dachte ich mir also. Wenn ich sie schon nicht loswerde, dann nehme ich eben meine Sorgen mit in den Wald. Werde mich ihnen stellen. Und diesmal versuche ich es nicht alleine, aus eigener Kraft. Stattdessen werde ich um Hilfe bitten. So wie Jesus in die Wüste ging und bei den wilden Tieren lebte, während ihm Engel dienten (Mk 1, 12). Also: Keine Angst vor wilden Tieren haben und gleichzeitig neugierig wahrnehmen, wer oder was diese Engel wohl sein werden. Und vor allem, welche Art von Service sie da draußen anbieten.

So saß ich dort unter einem Baum, vier Tage und Nächte, nur mit Wasser, Hängematte und Schlafsack ausgerüstet, und wartete auf Erleuchtung. Wilde Tiere ließen sich keine blicken, jedenfalls keine gefährlichen. Dafür wieder einmal die ollen Sorgen. Sie kamen und gingen, kamen und gingen. Dunkelheit, Einsamkeit, die Geräusche des Waldes – alles kein Problem für einen alten, lagererprobten Jungscharler. Das Beschwerliche kam stattdessen von innen. Und es tat weh: Gespenster der Vergangenheit, Befürchtungen der Zukunft. Es wurde ein richtiger Kampf. Als ich schließlich aus dem Wald zurückkam, war ich froh, ihn überstanden zu haben: Die Sorgen hatten nicht gewonnen.

Dafür gab es eine Erkenntnis: Es bringt nichts, Sorgen zu verdrängen. Wenn sie da sind, dann sind sie da. Anstatt sie wegzuschieben, kann ich es mir durchaus leisten, sie anzusehen, willkommen zu heißen, ihnen eine Zeitlang Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings nur als Besucher, nicht als Dauergäste. Irgendwann dürfen sie auch wieder weiterziehen. Außerdem muss ich mir nicht von ihnen sagen lassen, wer ich bin und wie ich handeln soll. Das entscheide ich immer noch selbst. Für mich persönlich haben sich in dieser Zeit im Wald drei Faktoren oder Kräfte gezeigt, die letztendlich stärker sind als alle Sorgen: Liebe, Dankbarkeit und Mut. Und das war eine mächtige Erfahrung. Ängste und Sorgen werde ich wohl immer haben, ein Leben lang. Aber es gibt Mächte, die stärker sind. 

Liebe ist stark wie der Tod (Hld 8,6) und überwindet auch Sorgen. Dankbarkeit lässt mich zurückblicken auf das, was ich bisher schon bewältigen konnte, und gibt mir so Kraft für die Zukunft. Und Mut bündelt meine Energie, schenkt Hoffnung und Zuversicht, um mich der Angst und den Sorgen entgegenzustellen, damit sie mich nicht lähmen.

Was mir außerdem in dieser Zeit bewusst geworden ist: Oft versuche ich, Krisen und Probleme durch intensives Planen und Vorausdenken zu vermeiden. Quasi schon alle Steine aus dem Weg zu räumen, bevor ich mich überhaupt auf den Weg mache. Meistens lähmt das aber eher, weil es in meiner Fantasie manchmal auch Steine gibt, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Also mache ich mich dann gar nicht erst auf den Weg, weil ich ihn mir einfach nicht zutraue.

Aber eigentlich bin ich doch ganz gut darin, in schwierigen Situationen spontan zu agieren und meinen Mann zu stehen. Und oft macht mir sogar genau das Spaß – heldenhaft Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Also: Wie wäre es, mit der anstrengenden und oft auch unnötigen Vorausplanerei einfach einmal aufzuhören? Wilder und gefährlicher zu leben? Ach, es kribbelt etwas, wenn ich mir das vorstelle! Da ist diese Lust, sich zu bewähren und einfach seinen Weg zu gehen, unbeschwert und spontan.

Wohlgemerkt: Menschen sind unterschiedlich. Manche leben sowieso schon ständig auf Messers Schneide und sollten es vermutlich nicht noch wilder treiben. Aber für diejenigen, die so wie ich in Gedanken schon vor Problemen kapitulieren, die es dann in der Realität eventuell gar nicht gibt, ist etwas mehr Tollkühnheit vielleicht eine ganz gute Idee.

Also – einfach mal etwas neugieriger sein! Was passiert wohl, wenn ich nachts ohne Badehose und Handtuch im Baggersee bade? Wie fühlt es sich an, in der Fußgängerzone 30 Minuten lang wirklich jeden Menschen anzulächeln, der mir begegnet? Und was ich wohl erleben werde, wenn ich mich einen Tag lang als Person des anderen Geschlechts in der Stadt bewege?

Okay, das klingt vielleicht alles erst einmal etwas seltsam oder sogar gefährlich. Aber mal ehrlich: Was kann mir schon passieren? Und vielleicht habe ich ja auch Lust, mir selbst Abenteuer auszudenken, mein eigenes Drehbuch zu schreiben?

Im Film „Fight Club“ bekommen Teilnehmer einer Art Männergruppe eine Wochenaufgabe: „Fangt mit jemandem einen Streit an.“ In kurzen Spots sieht man anschließend, wie einige anfangs recht gehemmte Männer versuchen, ihre Aufgabe zu erledigen. Mit der Zeit werden sie etwas mutiger und erleben teilweise richtige kleine Abenteuer.

Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10) Irgendwo dort draußen muss es doch mehr geben als Netflix und Instagram als Höchstes der Gefühle. Oder ist es uns lieber, „an der Statik unserer Vorabendserien zugrunde zu gehen und uns für teures Geld den Schlamm aus den Gehirnschleusen pumpen zu lassen“ (Katharina Franck)?

Lebe wild und gefährlich! Das ist meine Antwort für alle, die sich – wie ich – zu viele Sorgen machen, die stets fleißig bemüht sind, alle Klippen schon im Voraus auszuloten und weiträumig zu umschiffen. Ich sage dir: Lass es einfach! Ja, wer etwas erleben will, fängt sich auch einmal ein paar Kratzer und Beulen ein. Feiere sie! Es gibt kein Leben ohne Restrisiko. Und das ist gut so.

Damit das Abenteuer, das sich Leben nennt, aber seine Leichtigkeit und Unbekümmertheit behält, braucht es vielleicht doch ein paar verlässliche Rahmenbedingungen: Beispielsweise solltest du dich auf einen klar definierten Lebensbereich konzentrieren und dir konkrete Ziele setzen. Schließlich soll deine Reise keine Harakiri-Mission werden. Aber auch die Frage, wo die Grenze ist und was auf keinen Fall geschehen soll, kann dir letztendlich niemand beantworten. Das musst du selbst für dich herausfinden und festlegen.

Vielleicht hilft es dir auch, deine Abenteuerreise zu dokumentieren: Wenn du ein Tagebuch deiner Unternehmungen und Projekte führst, dann kannst du effizienter aus deinen Erfahrungen lernen und sie im Nachhinein noch einmal erleben, um mit einer neuen Sicht darauf vielleicht noch einmal andere Erkenntnisse zu gewinnen.

Bei all dem darfst du nicht vergessen: Menschen sind unterschiedlich. Und so ist auch ihr Umgang mit Ängsten, Sorgen, Nöten sehr verschieden. Die einen machen sich von Natur aus prinzipiell überhaupt keinen Kopf und sind dann eher überrascht, wenn etwas nicht nach Plan läuft. Die anderen wiederum investieren unglaublich viel Energie und Kreativität, um wirklich für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Wie auch immer man gestrickt ist – in der Regel wäre man lieber jemand von der anderen Sorte.

Egal, wo du beginnst und wie dein Weg aussieht: Lebe wild und gefährlich! Dann erstarken ganz von selbst deine drei Helfer gegen Ängste und Sorgen – wachsen und gedeihen, wie Muskeln, die man trainiert: Liebe, Dankbarkeit und Mut.