Vergiss mein nicht Filmplakat (© Farbfilm)

GJW-Filmkritik: "Vergiss mein nicht" (Bild: © Farbfilm)

Die Geschichte einer Alzheimer-Erkrankung, aber auch die einer großen Liebe und einer Familie, die sich in einer Krise neu begegnet – all das erzählt David Sieveking in seinem Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“.

Der deutsche Filmemacher David Sieveking konnte schon 2010 mit seiner Dokumentation „David wants to fly“ auf sich aufmerksam machen. Nun kehrt er mit einem noch deutlich persönlicheren Projekt zurück, denn sein neuestes Werk „Vergiss mein nicht“ dokumentiert die Alzheimererkrankung seiner eigenen Mutter. Um seinem Vater Malte zur Seite zu stehen, der die Pflege seiner Ehefrau fast allein bestreitet, zieht David wieder in sein Elternhaus. Während Malte eine längst überfällige Auszeit in der Schweiz antritt, begegnen sich Mutter und Sohn auf eine ganz neue Weise. Und während Mutter Gretel mehr und mehr ihr Gedächtnis verliert, beginnt  Sohn David ihre bunte Vergangenheit zu erforschen. Er stößt auf Geschichten von politischem Aktivismus, der Gretel gar in den Fokus der Schweizer Staatssicherheit rückte. David erhält aber auch einen tiefen Einblick in die Ehe seiner Eltern und erlebt hautnah mit, wie Malte und Gretel ihre Beziehung auf eine neue Ebene heben.

Mit dem Einverständnis seiner Familie hat David Sieveking einen sehr persönlichen Film gedreht. Die Nähe zu den Protagonisten ist für den Zuschauer nicht immer leicht zu ertragen. Auch wenn Gretel die meiste Zeit eine immense Freundlichkeit und Offenheit ausstrahlt, gibt es auch Momente großer Trauer und Verzweiflung. Aber Sieveking ist kein Voyeur, der den körperlichen und geistigen Verfall seiner Mutter nutzen möchte, um sein Publikum zu Sturzbächen von Tränen zu rühren. Vielmehr scheint er über die Krankheit, ihren Verlauf und die Konsequenzen für das soziale Umfeld des Betroffenen aufklären zu wollen.

Auch wenn Gretels Verwirrung zuweilen Anlass zum Schmunzeln gibt, ist „Vergiss mein nicht“ kein Unterhaltungsfilm, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz. Daher ist dieser Dokumentarfilm nur für Jugendliche ab etwa 14 Jahren geeignet, die dieser Auseinandersetzung gewachsen sind. Es ist sicherlich sinnvoll vor dem Film über die Symptome und den Verlauf der Krankheit zu sprechen, um ein besseres Verständnis der Geschichte zu ermöglichen.

 

Eine große Vielfalt an Anknüpfungspunkten

David Sievekings Film bietet ein großes Themenspektrum für weiterführende Gespräche. Das Thema Alzheimer-Demenz liegt auf der Hand. Mit dem jugendlichen Publikum kann über die Krankheit an sich sowie über eigene Erfahrungen, eventuell im familiären Umfeld, gesprochen werden. Die Geschichte von David und seiner Mutter zeigt eindrucksvoll die Umkehrung des Betreuungsverhältnisses im Alter. Plötzlich ist Gretel das Kind, das gefüttert und auch gewickelt werden muss. „Vergiss mein nicht“ macht die Frage nach der Pflegeverantwortung sehr transparent: Soll Gretel weiterhin von der Familie versorgt werden oder doch lieber in ein Heim ziehen? In der heutigen Zeit sind wir es kaum noch gewohnt, alte Menschen bis zu ihrem Tod zu begleiten. Viele Großeltern leben in Pflegeeinrichtungen und verbringen in ihrem letzten Lebensabschnitt kaum Zeit mit der jüngsten Generation. Es lohnt sich darüber ins Gespräch zu gehen und zu überlegen, wie in verschiedenen Kulturen und Epochen mit dem Thema Alter verfahren wird. Daraus kann sich auch eine Diskussion über den Familienbegriff ergeben: Was kann oder muss eine Familie leisten? Welche Verantwortung tragen wir für unsere Eltern? Was sagt die Bibel zu diesem Thema?

Ebenso wichtig wie der Familienzusammenhalt ist in David Sievekings Film die Liebesbeziehung zwischen Gretel und Malte. Die beiden sind Stellvertreter einer Generation, die sich von traditionellen Werten und Normen zu lösen bemühte. Und so haben Davids Eltern seit jeher eine offene Ehe geführt, die beide Parteien als solche ausnutzten. Trotzdem hat die Ehe gehalten. Trotzdem pflegt Malte seine Frau bis zu ihrem Tod mit großer Hingabe. „Vergiss mein nicht“ propagiert hier jedoch keine alternative Beziehungsform, sondern problematisiert die Beziehung zwischen Gretel und Malte durchaus. So kann David Sieveking auch Fragen nach der Ehe selbst aufwerfen. Was bedeutet Treue? Was bedeutet Liebe? Wie verändert sich die Vorstellung von Ehe im Lauf der Generationen oder auch im Lauf eines Lebens? Hier bietet sich natürlich ebenfalls ein Blick in die Bibel an.

Neben diesen ethisch-moralischen Fragestellungen eröffnet „Vergiss mein nicht“ aber auch eine künstlerische Diskussion, die in jedem Fall zumindest kurz angeschnitten werden sollte. David Sievekings Nähe zum Thema, der direkte Blick auf sehr private Momente einer Familie legen die Frage nahe, wie weit Kunst gehen darf. Wie viel darf eine Dokumentation zeigen, ohne ihren Protagonisten die Würde zu nehmen? Es ist sinnvoll, an dieser Stelle die kritische Wahrnehmung des jugendlichen Publikums zu schärfen.

„Vergiss mein nicht“ kommt am 31. Januar 2013 in unsere Kinos.

Sophie Charlotte Rieger (www.filmosophie.com)