Gott barrierefrei begegnen – was hindert dich?

17:06 Min | 41 MB
Autor: Mirko Thiele; Sprecher: Jonathan Gottwald
HERRLICH 02|2023, Seite 16-21

Von Mirko Thiele  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 16-21  |  8:06 MIN

Inklusion in der Gemeinde

Ein Thema voller Herausforderungen in der Umsetzung und für mich, ehrlich gesagt, auch schon beim darüber Nachdenken. Es geht um Men­schen und ihre Bedürfnisse. Darum, einander gerecht zu werden, ohne einander zu bevormunden. Reichlich Potential für Reibung, im Tun wie im Denken.

Über die genaue Definition von Inklusion kann man lange diskutieren. Für mich bedeutet es ganz schlicht und einfach, dass alle, die wollen, teilhaben können. Bezogen auf Gemeinde stellt sich da natürlich gleich die Frage: an was überhaupt? Wenn wir Gemeinde als einen Veranstaltungsort verstehen, brauchen wir einen barrierefreien Zugang für alle und ein gutes Soundsystem. Dann können alle, die wollen, zu

den Gemeindeveranstaltungen kommen und ihnen akustisch folgen. Solche baulichen und technischen Maßnahmen umzusetzen, sollte, wo immer es mög­lich ist, selbstverständlich sein. Darum gehe ich da auch nicht weiter drauf ein.

Stattdessen setze ich an einem Punkt an, der mich beim Nachdenken über diese Art der Barrierefreiheit stört. Gemeinde wird, zumindest in meinem Kopf, schnell zu einem reinen Veranstaltungs-­ oder Ver­sammlungsort. Aber so möchte ich Gemeinde gar nicht denken. Wie ich Gemeinde stattdessen denken möchte, dazu inspiriert mich eine Geschichte aus der Zeit, in der es christliche Gemeinden noch gar nicht gab: 

„Und nach etlichen Tagen ging er [Jesus] wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: ‚Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.‘“

(Markus 2,1­5; Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) 

Gemeinde? Worum geht's eigentlich?

Ich mag diese Bibelgeschichte unter anderem des­halb, weil sie auf wunderbar schlichte Art den Kern von Gemeinde beschreibt: Menschen versammeln sich, um Jesus zu hören und ihm zu begegnen. Ich möchte Gemeinde nicht als einen Veranstaltungsort denken. Ich denke Gemeinde als Gemeinschaft von Nachfolger*innen Christi, die in ihrem Miteinander einen fruchtbaren Boden für unverfügbare Gottesbegegnungen schaffen. Als Gemeinschaft, in der Menschen in Beziehung zu Gott treten und leben können.

In der Bibelgeschichte funk­tioniert das für die Meisten. (Zumindest denken sie das.) Nur für den Einen eben nicht.

In diesem Fall, weil er lahm ist und nicht gehen kann.

Was hindert dich?

Die Geschichte ist ein dankbares Beispiel, weil sie genau in das Denkmuster hineinlockt, in das ich auch gerne verfalle: Da kommt jemand mit einer körperli­chen Behinderung? Gut, lösen wir das Problem durch bauliche Maßnahmen (oder mehr Technik). Das sollte, wie gesagt, selbstverständlich sein. Ich würde aber in Bezug auf Gemeinde gerne ein bisschen „weiter“ denken, und den Sinn und Zweck von Gemeinde ins Zentrum stellen und nicht so sehr konkrete körperli­che Behinderungen von einzelnen Menschen.

Wenn wir Gemeinde als Gemeinschaft verstehen, in der es um Gottesbegegnung geht, dann ist der Um­ stand, dass man an dieser gehindert wird, weil man wegen einer körperlichen Einschränkung gar nicht ins Gebäude kommt, nur eine von vielen Möglichkeiten. Es gibt noch so viel mehr Dinge, die es Menschen erschweren, Gott in der Gemeinde zu begegnen.

  • Musik zu laut oder zu leise
  • Pastor zu konservativ
  • Pastorin zu liberal
  • Abendmahl nicht feierlich genug • Gottesdienst zu liturgisch
  • Lobpreis zu kurz
  • Lobpreis zu lang
  • Lieder zu englisch
  • Zu viel Selbstdarstellung im Gottesdienst • Ich bin zu anders ...

Irgendetwas zieht sich bei diesem Gedanken in mir zusammen. Kann man wirklich persönliche Prägungen und Vorlieben mit einem schwerwiegenden persön­lichen Schicksal wie einer Lähmung gleichsetzten? Sicher nicht! Aber vielleicht kann man sie im Hinblick auf bestimmte Aspekte vergleichen.

Menschen mit Behinderung haben es natürlich an vielen Stellen schwerer als Menschen ohne Behinde­rung. Wenn ich als das Ziel von Gemeinde, an dem alle teilhaben können sollen, aber die Möglichkeit einer Gottesbegegnung im Hinterkopf habe, dann kann das für einen Moment helfen, die gedanklichen Grenzen zwischen den Menschen mit Behinderung, die wir oft zu leicht als „Empfänger“ von Inklusion denken, und Menschen ohne Behinderung, die die Inklusion „machen“ sollen, verschwimmen zu lassen. Denn auch für Menschen ganz ohne körperliche Behinderung gibt es Dinge, die sie daran hindern, Gott so im Miteinander, im Gebet, beim gemeinsamen Essen etc. zu begegnen, wie sie das gerne möchten: schwierige Beziehungen untereinander, persönliche Prägungen, Geschmack, Stil, Tradition usw. Diese Dinge sind lapidar und in der Schwere, wie einen das im Alltag beeinträchtigt, nicht mal ansatzweise mit ei­ ner Behinderung zu vergleichen. Aber es sind Punkte, an denen auch Menschen ohne Behinderung merken, dass etwas sie daran hindert, in der Gemeinde Gott zu begegnen.

Im Fluss der letzten Zeilen ist der Gelähmte aus der Geschichte ein bisschen aus dem Blickfeld geraten. Das ist schön. Denn wenn wir als Zweck von Gemein­ de die Gemeinschaft und Begegnung mit Gott verste­hen, dann gibt es eine Menge Inklusionsbedarf – und zwar FÜR UNS ALLE! Es ist nicht nur diese kleine, in unserem Kopf vordefinierte Gruppe von „Inklusions­ Empfängern“, denen andere gnädigerweise Inklusion zuteilwerden lassen.

Diesen Gedanken mag ich: einen Menschen mit Behinderungen nicht zuerst als jemanden mit Inklusionsbedarf zu sehen, sondern als Bruder oder Schwester, die aus demselben Grund hier (in der Gemeinde) ist wie ich: um Gott zu begegnen! Und ab da müssen wir dann miteinander sehen, wie wir uns darin unterstützen können. 

Dasselbe Problem wie immer: Alle anderen!

Dem aufmerksamen Betrachter von Kinderbibeln wird nicht entgangen sein, dass die Geschichte von dem Ge­ lähmten, der durch das Dach gelassen wird, niemals in ei­nem modernen, mehrstöckigen Gemeindezentrum spielt. Das ist immer ein barrierefreies ebenerdiges Gebäude,

in dem Jesus spricht. Eigentlich hätten sich die Vier die Mühe sparen können, das Dach aufzureißen, den Lahmen hochzuhieven und runterzulassen. Theoretisch hätten sie ihn einfach auf seiner Matte reinziehen können. Es gab nur ein Problem: Alle anderen! Die Mehrheit, die dieses eine spezielle Problem, das der Gelähmte hatte, nicht hatte. Die steht unüberbrückbar zwischen ihm und Jesus. Ich habe eben geschrieben, dass es für uns alle sehr unterschiedliche Dinge sein können, die uns an Gottes­begegnungen hindern. Das wird jetzt zum Problem. Denn das bedeutet, dass wir in den meisten Fällen vermutlich Teil der großen Masse sind, die anderen im Weg ist. Oft ohne es zu merken oder böse zu meinen. Ich habe keine Ahnung, wie vielen Menschen ich durch mein Verhalten bei ihrer Gottesbegegnung schon im Weg war... 

Jetzt wird's persönlich

Die anonyme Masse ist natürlich die perfekte Schul­dige. Aber sie besteht bei näherem Hinsehen aus Individuen. Und zum Glück oft aus solchen, die selbst auch näher hinsehen. Die Menschen rechts, links,

vor und hinter sich wahrnehmen. Menschen, die die speziellen Bedürfnisse ihrer Nächsten kennen, weil sie eine Beziehung zu ihnen haben.
Die Versammlung in der Bibelgeschichte hat, so wie sie war, für die meisten funktioniert. Aber eben nicht für alle. Und mehrere andere wussten, dass es jeman­den gab, der an dem, weswegen sich alle überhaupt versammelt hatten, nicht teilhaben konnte. Vier von denen haben, anstatt sich selbst möglichst weit nach vorne zu drängeln, den Lahmen aufs Haus geschafft, das Dach aufgerissen und ihn heruntergelassen,

Jesus vor die Füße. Damit er ihm begegnen konnte. Das finde ich bemerkenswert! Wer die Kraft hat, das Dach abzudecken und jemanden da hochzuhieven und wieder runterzulassen, ist bestimmt auch gut darin, sich durch die Menge weit nach vorn zu drän­geln. Diese Menschen haben selbst auf ihre Chance einer Jesusbegegnung verzichtet, um sie für jemand anderen zu ermöglichen. Oder ereignet sich ihre Jesusbegegnung genau da? 

Take away - was ich aus der Geschichte mitnehme

Wenn ich diese Geschichte mit der Fragestellung nach Inklusion im Hinterkopf lese, gibt es einige Gedanken, die sich in meinem Kopf formen. Manche verschwinden wieder, andere werden konkreter. Keiner davon ist zu Ende gedacht. Hier habe ich einige für euch, bei denen ich mir vorstellen könnte, dass es sich lohnt, sie weiterzudenken, wenn wir uns mit Inklusion in Gemeinde beschäftigen.

Jeder ist anders komisch

Menschen sind unterschiedlich. Nicht alle begeg­nen und erleben Gott auf dieselbe Art und Weise. Jemand mit einer schweren geistigen und körperli­chen Behinderung erlebt Gott vielleicht grundsätz­lich ganz anders als ich. Nur, weil ich so jemandem durch bauliche Maßnahmen ermögliche, dass ihn jemand anderes in den Gottesdienst schiebt, heißt das noch nicht automatisch, dass er Gott in diesem Gottesdienst so begegnen kann, wie die „Mehrheit“ der anderen. Der Gottesdienst wäre dann zwar barrierefrei, aber vom Wesentlichen wäre die Person immer noch ausgeschlossen. Für ihn wäre vielleicht ein Besuch einer kleinen Gruppe nach dem Gottes­ dienst viel reicher an Gottesmomenten, als zwei Stunden im Gottesdienst zu sitzen. Ich frage mich, wieso es oft so viel leichter ist, die Teilnahme an bestimmten „Events“ als Kern des Gemeindelebens zu denken und nicht die Begegnung mit Gott. 

Es gibt noch mehr als die Mehrheit

Das, weswegen Menschen ausgeschlossen sind, liegt oft gar nicht an ihnen selbst. Sondern an der Art und Weise, wie „die Mehrheit“, die Gewohnheit, die Tradition, der kleinste (fast) gemeinsame Nenner oder das „Nicht­Hinterfragen“ das Gemeindeleben gestaltet. Egal, wie ich den Satz drehe und wende, er klingt immer irgendwie vorwurfsvoll. Das soll er nicht. Es ist nur die Feststellung einer Tatsache, für die es gute Gründe gibt. Die wir uns aber bewusst machen sollten, wenn wir über Inklusion in der Gemeinde nachdenken. Es gibt noch mehr als nur die Mehrheit. 

Wähle dein Pronomen

Wäre es nicht großartig, wenn Gemeinden „Inklusions­bedarf“ nicht als etwas denken, das einer Person „an­ haftet“? Sondern als die Summe aller Punkte, an denen wir aufeinander Rücksicht nehmen müssen, damit alle die Möglichkeit haben, Gott in der Gemeinschaft zu be­gegnen? Inklusionsbedarf in der Gemeinde sollte nicht „seiner“ oder „ihrer“ sein, sondern „unserer“. Schaffen wir es, Inklusion nicht statisch zu denken, so dass man dauerhaft in der Gruppe der „Geber“ oder der „Empfänger“ feststeckt, sondern als ein dynami­sches Aufeinander­Achten? Denn wir alle haben individuelle Bedürfnisse und Einschränkungen. Und wir alle begegnen Gott auf eine andere Art und Weise. Inklusionsbedarf besteht für uns alle gemeinsam. In unterschiedlichen Ausprägungen. Das erfordert von uns viel Aufmerksamkeit für die Be­dürfnisse der anderen und sehr viel Nachsicht für die vielen Momente, in denen unsere eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Eine Herausforderung, bei der es sich lohnen könnte, sich darauf einzulassen.

Einer achte den anderen höher als sich selbst

Wir können uns gegenseitig dabei unterstützen, die Dinge zu überwinden, die uns die Teilhabe erschweren: Selbstverständlich sorgen wir durch bauliche Maß­ nahmen dafür, dass der alte Mann im Rollstuhl ohne zu viel fremde Hilfe am Gottesdienst teilnehmen kann. Und in derselben Weise besteht der alte Mann nicht darauf, dass jeden Sonntag nur Choräle gesungen werden, sondern freut sich auch über moderne, engli­sche Lobpreislieder, selbst wenn er die vielleicht nicht versteht. Weil er weiß, dass die junge Frau neben ihm Gott dabei in der Art und Weise begegnen kann, die ihr entspricht. Die eigene Gottesbegegnung zurückzustel­len, damit andere eine erleben können, ist auch Teil der Geschichte. Und vielleicht genau der Moment, in dem sich die eigentliche Gottesbegegnung ereignet. 

Das Beste kommt zum Schluss

In der Geschichte vom Gelähmten, der durch das Dach gelassen wird, passiert am Ende etwas Bemer­kenswertes: Jesus sieht den Glauben derer, die das Dach abdecken, und dem Gelähmten werden die Sünden vergeben. Über den Glauben des Gelähmten selbst steht da – nichts. In einer Gemeinschaft, in der Menschen die Bedürfnisse des anderen sehen und voller Glauben das Nötige tun, um ihm in seiner Situation eine Jesusbegegnung zu ermöglichen, werden Menschen heil. Nicht aufgrund des Glaubens der einzelnen Person in einer schwierigen Situation, sondern auf Grund des Glaubens der Gemeinschaft, die aufeinander achtet.

Gottesbegegnungen sind nicht „machbar“. Und zum Handeln lässt Gott sich erst recht nicht zwingen. Und dennoch: Das Bewusstsein dafür, dass Gottes­begegnungen in der Gemeinschaft für alle möglich sein sollen, auch für die „Schwachen“ und nicht nur für die große Masse, bewegt Gott dazu, zu handeln und Menschen zu begegnen. Der Text beschreibt das Wirken Gottes, das sich auf geheimnisvolle Weise innerhalb einer Gemeinschaft ereignet, in der sich Menschen gegenseitig im Blick haben.

Gemeinde so zu denken, begeistert mich:

  • Gemeinde war nie ein Gebäude, immer Menschen. 
  • Menschen, die die Bedürfnisse voneinander sehen 
  • Menschen, die füreinander glauben. 
  • Menschen, die Mauern einreißen, um sich gegenseitig Gottesbegegnungen zu ermöglichen.

So geht Gemeinde. Und diese Gemeinde ist immer inklusiv. 

 

Mirko Thiele fotografiert gerne schöne Landschaften, Tiere und den Nachthimmel. Am liebsten da, wo es richtig kalt ist (www.instagram. com/mirko.thiele). Als Ausgleich für die ganze frische Luft arbeitet er als Referent für Kommunikation in der GJW Bundesgeschäftsstelle.