Der behinderte Gott.

Wie die Theologie der Behinderung Gott zugänglicher macht

Sprachliche Vorbemerkung: Ich spreche von mir als „behinderter Person“, wenn ich mich in einem Kontext v. a. mit meiner Behinderung identifiziere („Identity-First“-Sprache). Wenn die Person im Vordergrund steht, spreche ich von „Menschen mit Behinderung“ („Person-First“-Sprache). Ich nutze in meinen Texten beide Formulierungen. 

10:18 Min | 25 MB
Autorin: Sarah Staub; Sprecherin: Jonka Freitag
HERRLICH 02|2023, Seite 12-15

Von Sarah Staub  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 12-15  |  5:08 MIN

Stell dir Jesus vor - aber behindert

Ein Gedankenexperiment: Stell dir Jesus vor – mit Spastiken, einer Sehbehinderung, einem Stoma, Mul­tipler Sklerose, mit einem Sauerstoffgerät. Gott ist in Jesus als hilfloser, unselbstständiger und schwacher Säugling zur Welt gekommen. Darum ist das Gedan­kenexperiment „Jesus als Mensch mit Behinderung“ gar nicht so abwegig. Dennoch grenzt es für manche Menschen an Blasphemie, wie der Theologe Frank Mathwig schreibt:

„Das Bild eines Jesus, dem Speichel aus dem Mund läuft, der Grimassen schneidet, dessen Körper unko­ordiniert zuckt, der stockend, verzerrt mit gurgelnden Lauten, kaum verständlich spricht – den gibt es nicht. Und gäbe es diese Vorstellung, würde sie als Blasphe­mie bekämpft.“

Mathwig schreibt weiter:

„Das Problem besteht nicht darin, dass es diesen Jesus nicht geben kann – immerhin ist im Neuen Testament nur allgemein vom Menschen Jesus die Rede –, sondern, dass es ihn nicht geben darf.“ [1]

Ich finde es wichtig, herauszufinden, wieso ein solcher Gedanke Widerstand oder Unbehagen auslöst und woher diese Gefühle kommen. Oftmals verraten sie doch mehr über meine innere Haltung, als mir vielleicht bewusst ist.

Theologie der Behinderung

Der behinderte Christus ist kein neuer Gedanke. Durch die Kirchengeschichte hinweg gibt es immer wieder kleine Indizien dafür, dass sich Menschen darauf eingelassen und sich damit auseinanderge­setzt haben. Etwa der Maler Andrea Mantegna (1431‒1506), der in einigen seiner Gemälde das Jesuskind mit den charakteristischen Merkmalen der Trisomie 21 darstellte (s.l. das Bild „Madonna mit Kind“ aus dem Jahr 1460).

Der Ausdruck des „behinderten Gottes“ aus der sog. „Dis/ability Theology“ (oder auf Deutsch: „Theologie der Behinderung“) geht auf eine Schrift von Nancy L. Eiesland (1964–2009) zurück [2]. Eiesland war eine amerikanische Theologin, die mit einer Kno­chenkrankheit zur Welt kam. Sie kritisiert die typisch christlichen Antworten auf ihre Behinderung. Etwa, sie sei in Gottes Augen etwas ganz besonderes und deswegen so schmerzhaft behindert. Oder: Im Him­mel müsse sie sich keine Sorgen mehr machen, weil sie dann vollkommen sei. In diesem Fall, so schreibt die Theologin, könne sie sich selbst nicht mehr wiedererkennen, und vielleicht könne das auch Gott dann nicht mehr. Eiesland sagt:

„Meine Behinderung ist es, die mich gelehrt hat, wer ich bin und wer Gott ist.“

Der Titel ihres Buches „The Disabled God“ fasst be­reits zusammen, was Eieslands zentrale Botschaft ist: Der Gott des Christentums ist nicht ein vollkommener und autonomer Gott, sondern ein behinderter. 

Wunden und Narben

Die Zweifel behinderter Menschen, ob Gott wirklich bei ihnen ist, sich um sie sorgt und ihre Erfahrungen teilt, bringt Eiesland mit einer Anekdote auf den Punkt: Während einer Bibelstunde in einer Reha­ bilitationsklinik sagt ein junger Mann: „Wenn Gott

in einem mundgesteuerten Rollstuhl säße, dann würde er uns vielleicht verstehen.“ Kurz nach dieser Bibelstunde liest sie in der Bibel im Lukasevange­ lium 24,36­39, wo der auferstandene Jesus seinen Jünger:innen begegnet:

„Während sie noch darüber redeten, trat Jesus selbst in ihre Mitte [...] Sie erschraken und hatten große Angst, denn sie meinten, einen Geist zu sehen. Da sagte er zu ihnen: Was seid ihr so bestürzt? Warum lasst ihr in eurem Herzen solche Zweifel aufkommen? Seht meine Hände und meine Füße an: Ich bin es selbst. Fasst mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.“

Welche Erkenntnisse sie aus diesen Versen zieht, sowie eigene Erfahrungen aus der Reha verarbeitet Eiesland in ihrem Buch „The Dis­abled God“. 

Der auferstandene, verwundete, behinderte Gott

Ich fasse die Kerngedanken wie folgt zusammen: Da steht also dieser auferstandene Christus und bezeugt damit körperlich, dass Gott mit uns ist, genauso wie wir verkörpert sind: mit gezeichneten Körpern und Psychen, mit Narben, Wunden und Schmerzmalen. Damit bestätigt Jesus, dass alle menschliche Bedingt­ heit, dass alles menschliche Leben mit seinen Hürden und Verletzungen in Gott einbezogen ist, auch behin­ dertes und krankes Leben.

Indem Jesus seinen Jünger*innen seine beeinträch­tigten Hände und Füße zeigt, offenbart er sich als behinderter Gott. Der Anblick seiner Wunden schenkt seinen Gefährt*innen, und damit letztlich auch uns, die Möglichkeit, unsere Verbundenheit mit Gott in unserer eigenen Verletzlichkeit zu erkennen. Jesus, der auferstandene, verwundete, behinderte Gott. Die­ses Symbol eröffnet Menschen mit Behinderung und Krankheiten die Möglichkeit, sich mit Gott zu identifi­zieren und sich mit der Kirche und auch sich selbst zu versöhnen.

Jesus war ganz Gott und ganz Mensch - inklusve Beeinträchtigungen

Der behinderte Gott wird auch zum Offenbarungs­schenker einer neuen Mitmenschlichkeit: Er ist nicht nur „wahrer Gott“, sondern eben auch „wahrer Mensch“. Unterstrichen wird damit der Fakt, dass das volle Menschsein die Erfahrung von Behinderung und Krankheit mit einschließt.

Die „Dis/ability Theology“ hinterfragt die vorherr­schenden und scheinbar selbstverständlichen Einschätzungen zu Behinderung und Krankheit.
Zum Beispiel die Vorstellung, dass Behinderung die Lebensqualität und damit den Wert eines betroffenen Lebens reduziere. Oder dass Krankheit und Behinde­rung auf Sünde zurückzuführen sei. Bibelstellen wie z. B. Johannes 5,14

„Später traf Jesus den Mann im Tempel und sagte zu ihm: Du bist gesund geworden! Lade keine Schuld mehr auf dich, damit dir nichts Schlimmeres geschieht.“

können so interpretiert werden. (Später, in Johannes 9,3, dementiert Jesus den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit.)
Auch die beiden Grundmotive des „tugendhaften Leidens“ (jemand erträgt Krankheit, um zu bezeu­gen, wie Gott Kraft dazu gibt) oder der „ausgren­zenden Wohltätigkeit“ (wir spenden für die armen, blinden Kinder in Afrika) werden von der „Dis/ability Theology“ kritisiert.

Theologie der Behinderung will die biblischen Texte und Interpretationen kritisch hinterfragen, einordnen und neu oder anders denken. Sie geht von einem Menschenbild aus, das nicht die Perfektion, sondern die Angewiesenheit und die Zerbrechlichkeit des Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dies, ohne dabei die Fähigkeit und Befähigung („ability“) der Einzelnen aus den Augen zu verlie­ren. Die optische Markierung „Dis/ability“ soll dies versinnbildlichen.

Jesus Christus ist in dieser Lesart kein bedauerns­ werter, leidender Knecht Gottes, sondern schlicht ein Überlebender; „mitleidlos und unverblümt“, wie Eiesland schreibt. Oder wie ich mich gerne selbst beschreibe: alltagspragmatisch.

Diese Perspektive schenkt behinderten wie gesun­ den Menschen die Möglichkeit, sich ganz neu mit einem Gottesbild zu beschäftigen, dass unserer Menschlichkeit viel eher entspricht – einer ganz­heitlichen Menschlichkeit. 

Ein neues Verständnis von Ganzheit 

„Marginalisierte Gruppen brauchen bestärkende Symbole, in denen sie ihr eigenes Sein wiedererken­nen“, schreibt der Theologe Werner Schüssler. Das Bild von Jesus als behinderter Gott bietet ein solches Symbol. Es strahlt nicht nur für behinderte Menschen Kraft aus, sondern auch für die körperlich und see­ lisch Gesunden. Es begründet ein neues Verständnis von Ganzheit und damit auch eine neue Verkörperung der Gerechtigkeit: Diese Offenbarung Gottes bringt die sozial­symboli­sche Ordnung durcheinander, denn Gott wird sichtbar in den Körpern, in denen man es am wenigsten erwartet.“ (Nancy L. Eiesland)  

 

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei www.RefLab.ch in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Auf Instagram postet sie als „die fromme Häretikerin“ regelmäßig Illustrationen und Texte.