Das Reich Gottes ist barrierefrei

Von Carsten Claußen  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 6-11 |  7:39 MIN

Wie kommt man eigentlich in eine Ge­meinde? Klar, am einfachsten durch den Hauptein­gang. Für Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen ist das vielleicht nicht immer ganz so einfach. Die meisten Gemeindehäuser haben zwar einen behindertengerechten Eingang, vielleicht sogar einen Aufzug, der vom Keller bis zum Obergeschoss fährt, sicher eine Behindertentoilette und auch Kopfhörer, falls jemand schlecht hört. Architektur und Technik sorgen für Barrierefreiheit. Doch manchmal sind unsere Gemeindehäuser inklu­siver als unsere Theologie.

Wie kommt man eigentlich in eine Gemeinde, wie wird man Teil einer Gemeinde, wenn man körperliche oder geistige Beeinträchtigungen hat? Im Rollstuhl oder mit Krücken ist das vielleicht nicht so schwierig. Oder viel­ leicht doch, wenn es darum geht, sich taufen zu lassen und das mit dem Untertauchen nicht so einfach ist. Auch dafür gibt es sicher praktische Lösungen. So rich­tig spannend wird es aber für Menschen mit geistigen Einschränkungen. Darum etwas konkreter gefragt: Wie kann ein Mensch, der kaum oder gar nicht sprechen kann und eine begrenzte geistige Auffassungsgabe hat, seinen Glauben bekennen? Dies ist für Gemeinden, die Menschen auf das Bekenntnis ihres Glaubens taufen, eine offensichtliche Frage. Doch bevor es praktisch wird, erst ein paar Hintergrundinfos. 

Inklusion und Menschenrechte

Worum geht es im weiteren Kontext? Klar, um Inklusi­on! Das reicht natürlich weit über Gemeinde und Kir­che hinaus. Das Anliegen von Inklusion ist, dass alle Menschen in ihrer je eigenen Individualität am Leben in der Gesellschaft teilhaben können. Es geht also, ganz weit gefasst, um den Umgang mit Diversität. Das Ziel ist es, dass Teilhabe für alle Menschen gleichbe­rechtigt möglich ist und Vielfalt wertgeschätzt wird. Innerhalb dieses weiten Feldes geht es bei einem engeren Begriff von „Inklusion“ jedoch speziell um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Die Vereinten Nationen haben dem Thema Anfang des Jahrhunderts ein eigenes Dokument gewidmet. Die UN-Behindertenrechtskonvention trat 2008 in Kraft. Darin heißt es:

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behin­derungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleis­ten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“

Das Dokument hat sehr dazu beigetragen, dass Inklusion weltweit mehr und mehr Aufmerksamkeit erfährt. Wie buchstabiert sich dieses Anliegen im Lichte des Evangeliums? 

Krankenheilung und Diakonisches Handeln

Die Grundhaltung der helfenden Zuwendung gegen­ über Menschen mit Behinderungen ist natürlich nicht neu. Auch die Bibel zeigt uns Menschen mit Krankheit und Behinderung. Sie erzählt davon, wie Jesus sich diesen zuwendet, Sünden vergibt und viele heilt. Er verhilft Menschen zu einem Leben in sozialer und kultureller Teilhabe (Lk 5,12­16; 17,14).

Als Sterbender wird Jesus selbst zum Leidenden und Verwundeten. Der Auferstandene trägt die Verlet­zungen der Kreuzigung an Händen, Füßen und der Körperseite (Lk 24,39f.; Joh 20,27). Die ersten Chris­ten und Christinnen bekennen: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5 vgl. 1 Petr 2,24).

Auch Paulus stellt sich als Mensch mit einem dauerhaften Leiden vor (2 Kor 12,7) und gibt sogar mit seiner Schwachheit an (2 Kor 11,30; 12,5), weil „die Kraft Christi in der Schwäche voll zur Geltung kommt“ (2 Kor 12,9). Dies hat auch Auswirkungen auf das Miteinander in der Gemeinde als Leib Christi.

Paulus zeichnet nicht das Bild eines kraftstrotzen­den Leibes, sondern er widmet sich besonders den Gliedern, „die schwächer zu sein scheinen“ (1 Kor 12,22) und „die wir für weniger edel halten“ sowie den „unanständigen“ (1 Kor 12,23). Für die christ­liche Gemeinde gilt darum: „Vielmehr sind gerade die Körperteile, die schwächer zu sein scheinen, die notwendigsten“ (1 Kor 12,22).

Damit stellt Paulus unsere Vorstellung von einer an Leistung und äußerer Schönheit orientierten Gesell­schaft und manchmal auch Gemeinderealität auf den Kopf. Gerade die „behindertsten“ Gemeindeglieder haben eine extrem wichtige Aufgabe. Sie erinnern uns daran, dass wir nicht Gottes Kinder genannt werden, weil wir so stark und fleißig sind, sondern Gott hat uns durch den Glauben und durch die Gnade zu „Got­tes Kinder[n] in Christus Jesus“ gemacht (Gal 3,26). Damit ist klar: Menschen mit Einschränkungen haben ihren Platz nicht am Rand oder schlimmstenfalls jenseits der Wahrnehmung von Gemeinde, sondern überall da, wo die anderen Gemeindeglieder auch sind. Menschen mit Behinderungen werden getauft, wenn sie dies wünschen. Auch beim Abendmahl sind alle Glaubenden als Beschenkte Christi gleichwertig (vgl. die Kritik in 1 Kor 11,17–34). In Gemeinde gilt: Es wird weder in Juden und Griechen, nicht in Sklaven und Freie (1 Kor 12,13), nicht in „männlich und weib­lich“ (Gal 3,28) und eben auch nicht in Behinderte und Nicht­Behinderte unterteilt. Alle haben Gaben von Gott bekommen, und alle sind auf die eine oder andere Weise hilfsbedürftig.

Doch oft gibt es Berührungsängste, Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen des Gemeindele­bens teilhaben zu lassen. Was braucht es, um Men­schen mit geistigen Behinderungen, die wenige oder keine Worte haben, die sich körperlich nicht ohne Hilfe bewegen können oder einfach nur wasserscheu sind, zu taufen und am Abendmahl teilhaben zu

lassen? In der Begegnung mit behinderten Menschen erleben wir eine Fremdheitserfahrung. Hier braucht es einen „Sprung ins Ungewisse“ (Kierkegaard). Es geht um Mut zu kleinen Schritten, zu Begegnung und zu Veränderung.

Pia Kuhlmann von der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend e.V. hat es auf der GJW­Bun­deskonferenz im März 2023 auf den Punkt gebracht: Sie „ermutigte die Teilnehmenden, eine Haltung zu entwickeln, die Menschen in all ihrer Unterschiedlich­keit Teilhabe ermöglicht. Dazu muss man nicht jede Herausforderung oder Beeinträchtigung im Vorfeld komplett klären, sondern kann einfach erste Schritte gehen: Menschen mit Einschränkungen mitnehmen und sich zugestehen, dass Fehler auf dem Weg pas­sieren werden“ (siehe Bericht auf www.gjw.de).

Wie kann das für Taufe und Abendmahl ganz prak­tisch aussehen? Dazu zwei Beispiele und dann noch eine Leseempfehlung. 

Taufe, Abendmahl, Gemeinde und Gottes Reich barrierefrei

Ludwig* ist in einem Heim aufgewachsen, das eng mit einer christlichen Gemeinde der täuferischen Tradition verbunden ist. Er kann gehen, aber seine geistigen Fähigkeiten sind sehr eingeschränkt. So kann er nur wenige Worte sprechen. Gern nimmt er an den Gottesdiensten teil und ist längst erwachsen. Seit vielen Jahren gehört er einfach dazu. Aber ge­tauft war er lange Zeit nicht. Doch das wollte er gern. Soviel war klar. Wie sollte das gehen? Die Gemeinde nahm nur Menschen als Mitglieder auf, die sich auf das Bekenntnis ihres Glaubens hin taufen ließen. Mit einem ausformulierten Bekenntnis konnte das bei Ludwig nicht funktionieren. Dazu fehlten ihm ganz einfach die Worte. Was sollte man also tun? Ludwig kann zwar nicht viel reden, aber er kann schön singen und kennt viele Gemeindelieder auswendig. So wurde ihm die Möglichkeit gegeben, seinen Glauben mit einem Lied zu bekennen, das er für die Gemeindever­sammlung sang. Und dann wurde er getauft, auf das Bekenntnis seines gesungenen Glaubens hin.

Hermann* hatte oft schwere epileptische Anfälle, die sein Gehirn massiv geschädigt hatten. Er konnte laufen, aber nicht sprechen. Ich lernte ihn Mitte der 80er Jahre kennen, als ich in Bethel in Bielefeld stu­dierte. Dort leben mehrere tausend Menschen mit Behinderungen, die meisten von ihnen mit Epilepsie. Manchmal holte ich Hermann am Sonntagmorgen
in seiner Wohngruppe ab, und dann gingen wir ge­meinsam zum Gottesdienst. An einem Sonntag war Abendmahl. Ich erinnere mich nicht mehr, wie Her­mann es schaffte, mir klarzumachen, dass er nach vorn gehen und daran teilnehmen wollte. Vermutlich stand er einfach auf und nahm mich mit. So feierten wir gemeinsam mit vielen anderen Abendmahl. An jenem Morgen habe ich gelernt, dass der Glaube auch lebt, wenn er keine Worte hat oder findet, und dass Menschen ihren Glauben auf ganz unterschied­liche und manchmal überraschend andere Weise zum Ausdruck bringen können.

Von einem dritten Menschen erzählt Henri Nouwen (1932–1996) in seinem Buch „Adam. Mein Freund ohne Worte“ (Neufeld Verlag 2022,
s. Seite 35).
Nouwen war ein katholischer Priester und Theologieprofessor in Harvard. Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er als geistlicher Leiter in einer Gemeinschaft von Menschen mit und ohne geistige Behinderung. Dort lernte er Adam kennen, einen jungen Mann, der weder sprechen noch allein gehen konnte. „Geistig und körperlich schwerstbehindert“ wäre wohl der übliche Begriff. Doch wie sich herausstellte, ist das eine unangemessene Verengung der Wahrnehmung.

Zunächst hatte Nouwen Angst davor, den Mann zu betreuen. Doch all­mählich ließ er sich auf Adams Kommunikation und sein Tempo ein. Bald stellte Nouwen sich sehr grundsätzliche Fragen zu Adams Glauben (60f):

„Konnte Adam beten? Wusste er, wer Gott ist und was der Name Jesus bedeutet? Verstand er das Geheimnis Gottes unter uns? Lange Zeit dachte ich über diese Fragen nach. Lange Zeit überlegte ich, wie viel von dem, was ich wusste, Adam wohl wissen könnte und wie viel von dem, was ich begriff, Adam verstehen konnte.“

Doch dann wandelt sich für den Priester die Perspektive:

„Aber jetzt erkenne ich, dass diese Fragen für mich Fragen von ‚unten‘ waren, Fragen, die mehr meine Sorge und Unsicherheit zum Ausdruck brachten als Gottes Liebe. Gottes Fragen, die Fragen von ‚oben‘ waren: ‚Kannst du dich von Adam ins Gebet führen lassen? Kannst du glauben, dass ich in tiefer Gemeinschaft mit Adam bin und dass sein Leben ein Gebet ist? Kannst du Adam an deinem Tisch ein lebendiges Gebet sein lassen? Kannst du in Adams Gesicht mein Gesicht erkennen?‘“

Diesen Veränderungsprozess begreift Nouwen als Geschenk und emp­ fängt wie andere auch durch Adams Sein, der fast nichts aktiv tun kann, „die Gabe des Friedens, der Gegenwart, der Sicherheit und Liebe“ (60). Ohne Adams körperliche und geistige Situation auch nur im geringsten zu idealisieren, bringt Nouwen seine Beziehung zu Adam auf den Punkt:

„Ich konnte ihm Fürsorge und Pflege anbieten, die er wirklich brauchte, und er segnete mich mit dem reinen und dauerhaften Geschenk seiner Person“ (56).

Wer sich auf die Lektüre dieses wertvollen Buches einlässt, wird schnell entdecken, dass Menschen mit Behinderung nicht nur Empfangende, sondern auch Gabe und Geschenk für andere sind. Sie erinnern uns an unsere eigenen Begrenzungen und Behinderungen, an unsere Bedürftig­keit und das Geschenk der Gnade Gottes.

Inklusion ist damit mehr als ein gesellschaftspolitisches Konzept oder Programm. Die Gemeinschaft von Menschen in einer christlichen Gemeinde mit all ihren Gaben und Einschränkungen gibt einen Vorge­schmack auf das Reich Gottes. Menschen mit Behinderungen nehmen teil und bringen auf ihre ganz individuelle Art zum Ausdruck: „Spricht etwas dagegen, dass ich getauft“ (Apg 8,36) und Glied der Gemeinde werde? Wenn das Reich Gottes barrierefrei ist, dann muss die Gemeinde es auch sein, nicht nur mit ihrer Architektur und Technik, sondern auch in ihrer Theologie und ihrer Art, den Glauben gemeinsam und grenzüber­schreitend zu leben. 

*Name geändert

Dr. Carsten Claußen ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal