"Entfernt das Böse aus eurer Mitte!"

Zum Verständnis einer radikalen Forderung im 5. Buch Mose

Von Dirk Sager  |  Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 8-11  |  7:05 MIN  

Seit ich die Bibel kenne, mache ich zwei Leseerfahrungen: Bestimmte Sätze und Texte sprechen mich an und machen mir Mut. Andere Texte irritieren mich oder schrecken mich regelrecht ab.

Im 5. Buch Mose (Deuteronomium, im Folgenden abgekürzt mit Dtn), das mich schon als Teenager fasziniert hat, findet sich eine wiederkehrende Formulierung, die zu meiner zweiten Leseerfahrung gehört. An mehreren Stellen heißt es dort: „Entfernt das Böse aus eurer Mitte!“ (Dtn 13,6; 17,7; 17,12; 19,19; 21,21; 21,22; 22,24 BasisBibel).

Diese knappe, nur für das Deuteronomium typische, formelhafte Aufforderung, die meist auch mit der (Androhung der?) Todesstrafe verbunden wird, löst bei mir allerlei Fragen aus: 

  1. Was ist hier mit dem Bösen gemeint?
  2. Und wie ist es dann möglich, dieses Böse konkret zu entfernen?
  3. Womit erklärt sich schließlich die Radikalität dieser Anweisung, die keine Kompromisse zu kennen scheint?

Ich will versuchen, diese drei Probleme ein wenig aufzuhellen, sodass der heutige Umgang mit der Frage nach dem Bösen etwas leichter fällt. Alle Fragen zum Bösen werde ich damit nicht beantworten können (dazu ist das Thema zu vielschichtig), aber immerhin einen hoffentlich wichtigen Teilaspekt beleuchten.

Das „Böse“

Wenn wir im Rahmen unserer christlichen Tradition vom Bösen bzw. von Bösem sprechen, denken wir hauptsächlich in moralischen Kategorien. „Böse“ meint in unserem Sprachgebrauch nicht bloß etwas „Schlechtes“ (z. B. einen qualitativ schlechten Film), oder ein „Übel“ (z. B. ein zerstörerisches Unwetter), sondern bezeichnet etwas gezielt Feindseliges und extrem Menschenverachtendes. Böses ist immer der Gegensatz zum ethisch Guten.

Wenn wir dann auch noch von dem Bösen (in der Einzahl) reden, verbindet sich dieses Wort in unserer Vorstellung meist unausgesprochen mit einem sehr komplexen theologischen Programm: Wir denken an das Böse als eine übermenschliche, schwer fassbare Macht, an das Widergöttliche, Teuflische, oder auch an den Satan; an eine geheime Allianz menschlicher und übermenschlicher Dynamik, die das als gut beabsichtigte Leben zerstören will. Der christliche Glaube gewinnt seine Hoffnung aber gerade aus der Gewissheit, dass dieses Böse seine letzte Durchsetzungskraft bereits verloren hat.

Für die Menschen, an die sich das 5. Buch Mose zuerst richtete (irgendwann in der Zeit zwischen dem 7. und 5. Jahrhundert v. Chr.), lag dieser eben grob skizzierte Glaubenshorizont noch in weiter Ferne. Was nicht bedeutet, dass sie keine Hoffnung hatten! Sie lebten einfach in einer etwas anderen kulturellen Welt als wir heute.

Das Wort, das in unseren deutschen Bibelübersetzungen mit „böse“ wiedergegeben wird (  r‘‘), enthält in der Hebräischen Bibel sowohl eine moralische als auch eine schicksalhafte Bedeutungsnuance. Als „böse“ wird sowohl das bezeichnet, was den Menschen übel mitspielt (z. B. ein tragisches Unglück), als auch ihr moralisches Fehlverhalten (z. B. ein Kapitalverbrechen).

Im alten Israel erfuhr man dabei dieses Böse bzw. Üble als eine sehr konkrete Macht, die das Leben in all seinen Dimensionen (physisch, psychisch, sozial, spirituell) mitbestimmt; eine Macht, der man zwar oft hilflos ausgesetzt war, weil man in ihr auch dämonische Kräfte am Werk sah, die man aber ebenso auch gezielt beeinflussen konnte, z. B. durch Rituale oder Gebete.

„Entfernt das Böse …“

In dieser Lebenswelt stellte man sich das Böse / Üble dabei so ähnlich vor, wie einen Eindringling, der im alltäglichen Leben Schaden anrichtet und auf Dauer krank macht. Die Aufforderung, das Böse zu entfernen, wird dann sprachlich mit demselben Wort markiert, wie wenn man sagen will, dass man Unrat aus der Wohnung wirft: „Ich werde das Haus Jerobeam ausfegen, wie man Dreck wegfegt, bis es wieder rein ist“ (1. Könige 14,10).

Von dieser ganz „handfesten“ Bedeutung her werden, wie man an diesem Beispiel sieht, Vergleiche gezogen, indem man auch von Menschen spricht, die wegen ihrer bösen Taten aus der Gemeinschaft auszuschließen seien. Genau wie man Dreck ausfegen kann, lässt sich in diesem Konzept der soziale Lebensraum „reinigen“ (vgl. 2 Könige 23,24).

Den Verfassern des 5. Buches Mose war es nun besonders wichtig sicherzustellen, dass keine anderen Götter als der Gott Israels verehrt wird (also JHWH – am besten, man notiert auch im Deutschen nur die vier Konsonanten, die den Gottesnamen bezeichnen), und dass niemand seinen israelitischen Mitmenschen von dem alleinigen Gott abbringt. Wenn das Land zu verseuchen droht, so dachte man, dann muss es konsequent entgiftet werden, damit sich das Böse nicht immer weiter ausbreitetet, was in diesem Fall bedeutet, dass die israelitische Gemeinschaft zerstört wird, weil sie ihren Gott verliert.

Die verschiedenen, teils radikalen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus in unserer Zeit erinnern mich ein wenig (oder auch recht deutlich) an diese Vorstellung der Ausrottung eines Giftes (Virus bedeutet ja genau das). Denn auch bei uns war und ist der Kampf gegen Corona ein Kampf gegen ein Übel, das böse erscheint, weil es so schwer zu fassen ist und alle Menschen betrifft. Wir wollen es loswerden – am besten ganz konsequent – und leiden doch darunter, dass es nicht hundertprozentig gelingt.

„… aus eurer Mitte!“

So ganz fremd ist uns die Radikalität einer ethischen Forderung also nicht, sie wird gegenüber der Antike nur in etwas anderer Weise interpretiert. Irritierend sind die Texte der Bibel für mich trotzdem, zumal immer wieder erklärt wird, dass das Böse zu entfernen bedeutet, die Täter mit dem Tode zu bestrafen (z. B. jemanden, der dabei ertappt wird, vom Gott Israels abgefallen zu sein, weil er andere Götter verehrt, Dtn 17,2-7). Jedenfalls erwecken die Texte den Anschein, als wären diese Bestimmungen genauso in die Praxis umgesetzt worden.

Es tröstet mich nur bedingt, wenn ich lese, dass das Urteil nur nach gründlicher Untersuchung und nur auf mehrerer Zeugenschaft hin vollstreckt werden dürfe (Dtn 17,4-6). Was nützt es? Am Ende, wenn die Sache „durchgezogen“ wird, steht eben doch die Todesstrafe für den Abfall von Gott da. Oder etwa nicht? Wie soll ich mir das vorstellen? Wurden damals Apostaten (vom Glauben Israels Abgefallene) reihenweise exekutiert?

Genau klären lässt sich diese Frage heute nicht mehr. Viele moderne Bibelwissenschaftler haben in detailreichen Studien beobachtet, dass der Satz „Entfernt das Böse aus eurer Mitte“ ein wiederkehrendes Element ist, das auf das Konto von Schriftgelehrten geht, d.h. nicht auf Juristen nach unserem Verständnis (eine moderne Form der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion gab es freilich ebenso wenig). Was aber wollten diese Theologen, was war das Ziel ihrer Schreibertätigkeit?

Vermutlich ging es darum, mithilfe wiederkehrender Leitgedanken und -motive verschiedene, ehemals getrennte Gesetzestexte zu einem neuen Ganzen (dem deuteronomischen Gesetz Dtn 12-26) zu verbinden. Die Formel von der Ausrottung des Bösen wäre dann in erster Linie eine literarische Technik der Textkomposition. Beim Lesen soll ein ethischer Kompass bzw. ein roter Faden deutlich werden. Weil Gott „in der Mitte“ (Dtn 6,15; 7,21) des Volkes Israels wohne, hätten andere Mächte in diesem Raum keinen Platz. Im äußersten Grenzfall könnten auf dieser Grundlage Abweichler bestraft werden – in der Theorie jedenfalls (und in der Praxis vielleicht auch).

Fazit

Wie also könnten wir heute mit diesen Texten und ihrer Sicht auf das Böse umgehen? Wenn ich zunächst einmal die Perspektive eines Historikers beibehalte, lässt sich ein besseres Verständnis des antiken Vorstellungshintergrunds gewinnen und die Bedeutung des Bösen im 5. Buch Mose leichter einordnen. Damals waren bestimmte, wohl recht einflussreiche Wortführer der Auffassung, dass man Gott nur dann wirklich gerecht werde, wenn man alle anderen Formen von religiöserer Verehrung radikal aus der Gesellschaft ausmerze. Nur so sei das Überleben der Gemeinschaft garantiert.

Auch aus diesem Abstand heraus bleibt mir dieses Denken nach wie vor fremd. Das zu akzeptieren finde ich legitim und wichtig, sonst würde man am Ende jeden biblischen Text für sich so hinbiegen, wie man das möchte. Man darf sich auch von aus heutiger Sicht überzogenen Ansprüchen distanzieren. Das hilft, eine Haltung in gegenwärtigen Auseinandersetzungen zu gewinnen.

Gegenüber kompromisslosen Forderungen – damals wie heute – bin ich sehr skeptisch, denn sie haben ihren Preis. Das gilt für den Ausschließlichkeitsanspruch Gottes ebenso wie für heutige Maßnahmen im Umgang mit ethischen Konflikten (z. B. in der Corona-Pandemie). Denn wer garantiert, dass radikale Urteile und Maßnahmen, und seien sie noch so gut begründet, faire Ziele erreichen? Woher soll man wissen, dass dabei nicht erneuter, vielleicht noch größerer Schaden entsteht?

Und selbst wenn die biblischen Gesetze im alten Israel möglicherweise nicht 1:1 umgesetzt worden waren, hebt das die Zweideutigkeit der Aussagen nicht auf. Was schwarz auf weiß dasteht, kann immer auch für vermeintlich „heilige“ Zwecke und „höhere“ Ziele missbraucht werden. Das Böse zu entfernen, heißt für mich heute: die Grautöne bis auf ein bestimmtes Maß auszuhalten – und genau auf diesem Weg dem Bösen seine Grenzen zu setzen.

 

Dirk Sager (*1975), Dr. theol., ist seit 2016 Professor für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Elstal.

  

Literaturtipps zum Weiterlesen:

  • Jörg Kiefer: Artikel Sünde / Sünder (AT): Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (ww.wibilex.de) (2017), Abschnitt 2.4: Das Böse: die Wurzel r‘‘ „böse / schlecht sein“
    [Zugriff am 31.10.2022], Permanenter Link zum Artikel: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31970/ 
  • Udo Rüterswörden: Das Buch Deuteronomium, Neuer Stuttgarter Kommentar zum Alten Testament (NSTK.AT)  Band 4, Stuttgart 2006.