Böse Kinder?!

Von Anna Noß  |  Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 42-45  |  5:31 MIN  

Wenn du mich fragst, wie der Mensch auf diese Welt kommt, lautet meine erste intuitive Antwort: vollkommen! Hast du schon mal ein neugeborenes Baby in den Armen gehabt? Der Friede und die Harmonie, die von einem satten Baby ausgehen, berühren uns alle instinktiv ganz tief.

Also sind alle Kinder Engel?
Nein, denkst du, denn es fallen dir vermutlich gerade ein paar Situationen ein, in denen dir diese engelsgleichen Wesen eher wie Monster vorkamen. Die nicht hören, was du zu sagen hast, die mit Schimpfwörtern um sich schmeißen, die andere Kinder hauen, schubsen und nur an sich selbst denken.

Hm … Also sind Kinder am Anfang vollkommen und dann mutieren sie?
Vorherige Generationen waren davon überzeugt, dass Kinder tatsächlich böse sind und wir sie zum Guten erziehen müssen. Wir wissen heute, dass es anders ist.

Astrid Lindgren hat einmal gesagt:
„In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist.“

Das „Compassion prison project“

 Vor einigen Wochen schaute ich ein Video auf YouTube – eines dieser Videos, über die man zufällig (also nenn es „Zufall“ oder „Algorithmus“) stolpert und nach dem man nicht direkt zur Tagesordnung übergehen kann. Es handelte von einem Projekt namens „Compassion prison project".

235 inhaftierte Männer versammelten sich auf dem Hof eines kalifornischen Gefängnisses. Sie stellten sich in einem großen Kreis auf und bekamen Fragen zu ihren ersten 18 Lebensjahren gestellt, unter anderem folgende Fragen:

  • Wurdest du beschimpft, gedemütigt?
  • Hast du Gewalt erlebt?
  • Hast du sogar so starke Gewalt erlebt, dass du verletzt wurdest und blaue Flecken hattest?
  • Hattest du oft das Gefühl, dass du ungeliebt und unwichtig für die Erwachsenen warst?
  • Bist du in extremer Armut aufgewachsen?

Jedes Mal, wenn die Antwort „Ja“ lautete, sollten die Männer einen Schritt in den inneren Kreis machen. Der innere Kreis wurde immer dichter, und keiner der Männer stand am Ende des Experiments im äußeren Kreis.

Schau dir unbedingt die beiden Videos an, die über dieses Projekt gezeigt werden!

Dr. Gabor Mate wird zitiert: „When you study prison populations, you see a preponderance of childhood trauma and mental illness. The two go together. So what we have in prisons are the most traumatized people in our society.“

Im Gefängnis sitzen Menschen, die nicht kriminell geboren wurden, sie wurden traumatisiert. Dort finden sich die traumatisiertesten Menschen unserer Gesellschaft.

Eine große Aufgabe

 Denken wir also noch einmal an Astrid Lindgrens Worte, so wissen wir: Es liegt an uns, wie Kinder groß werden. Wir sind also in der Verantwortung. Und was brauchen Kinder, um gesund aufzuwachsen, was brauchen sie, um nicht böse zu werden?

Sie brauchen das Gefühl, genau so okay zu sein, wie sie sind! Wenn wir angenommen und geliebt werden, macht uns das stark, resilient. Wir entwickeln ein gesundes Selbstgefühl und Selbstvertrauen.

Kinder anzunehmen, wie sie sind, bedeutet übrigens nicht, dass es immer okay ist, was sie machen. Aber ihr Wert hängt nicht von ihrem Tun ab. Das ist ein ganz entscheidender Unterschied, dessen Wichtigkeit ich nicht genug betonen kann!

Die eigene  Kindheit reflektieren

In sehr vielen kleinen Alltags-Situationen fällt es uns als Erwachsenen schwer, Kindern so zu begegnen und ihnen zu vermittelten, dass sie okay sind. Denn uns wurde als Kind auch nicht so begegnet. Wir sind vielleicht nicht so stark und schwer traumatisiert und sind nicht im Gefängnis gelandet, doch auch wir wurden nicht gesehen, nicht bedingungslos geliebt und gewaltvoll behandelt.

Wir wiederholen dieses Verhalten. Wir beschämen Kinder, wir schicken sie aus dem Raum, wir üben Druck aus und wir nehmen sie nicht ernst.

Ich wurde geliebt als Kind und habe ein schönes und warmes Zuhause gehabt. Dennoch erlebte ich in meiner Kindheit Macht, Autorität und Angst. Meine Eltern erlebten dies ebenso und deren Eltern auch und deren Eltern …

Vielleicht denkst du, dass ich übertreibe? Vielleicht kommt dir etwas in den Sinn, wie: „Es war doch nur ein Klaps oder ab und zu Hausarrest“?

Genau diese Argumentation zeigt uns, dass es nicht in Ordnung ist, was geschah: Wir legitimieren und bagatellisieren gewaltvolles Verhalten, das uns als Kind widerfahren ist.

Zu keinem Zeitpunkt war oder ist es in Ordnung, wenn einem Kind so begegnet wird! Wir müssen keine Schuldigen suchen, denn – wie gesagt – unsere Eltern und die Erwachsenen unserer Kindheit wussten es nicht besser. Aber wir dürfen anerkennen, dass es nicht in Ordnung war. Und wir dürfen kommenden Generationen neu begegnen.

Um den uns anvertrauten Kindern eine friedvolle Kindheit zu ermöglichen, dürfen wir uns also unsere Kindheit anschauen. Wir können reflektieren, erkennen, heilen.

Wenn du eigene Kinder hast oder mit Kindern arbeitest, ist das die Basis.

Böses Verhalten von Kindern

Und was ist mit dem Verhalten der Kinder, das uns sehr böse vorkommt? Haut ein Kind einem anderen Kind die Schaufel im Sandkasten über den Kopf, ist es nicht absichtlich böswillig, sondern impulsiv. Intensive Gefühle überkommen das Kind und es handelt danach. Wir dürfen dann erforschen, welches intensive Gefühl das Kind gerade zu meistern hat, und es darin begleiten. Zu einem späteren Zeitpunkt können wir unsere Werte aufzeigen.

Wie reagiere ich auf dieses Verhalten

In einer Sandkasten-Schaufel-Situation würde ich schauen: Wie heftig ist es gerade? War es im Grunde eine nonverbale Botschaft von einem Kind zum anderen, die lautete: „Hallo, spinnst du, das ist meine Schaufel und ich will nicht, dass du sie gerade benutzt!“, dann schreite ich gar nicht ein. Kinder klären manchmal auf diese Weise Dinge zwischen sich und es ist nur unsere Erwachsenen-Sichtweise, die das dann negativ bewertet.

Ist das Kind aber richtig in der Wut, setze ich mich dazwischen, finde heraus, was vorgefallen ist, sehe es mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen. Ich stoppe gewaltvolles Agieren, ich sorge dafür, dass niemand zu Schaden kommt.

Kinder sind manchmal wütend, ja! Vor allem in der Autonomiephase. Wenn wir diese Wut und Frustration nicht da sein lassen und sie unterdrücken, werden Kinder langfristig aggressiv. Und aggressives Verhalten ist kein gesundes Verhalten.

Wenn Kinder sehr oft und sehr viel „böses Verhalten“ an den Tag legen, geht es ihnen nicht gut. Sie zeigen dann mit diesem Verhalten auf, dass sie in Not sind. Dann sollten wir das Gespräch mit den Eltern und dem Umfeld suchen.

Jesper Juul hat einmal gesagt: „Kinder machen nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun.“ Ja, es ist so einfach und schwierig zugleich! Wir sind ihre Vorbilder. Immer und zu jeder Zeit. Wenn wir ihnen friedvoll begegnen, machen wir dadurch diese Welt ein Stück friedlicher. 

 

Anna Noß ist Pädagogin. Auf ihrer Seite „Kinderwärts“ findest du Inspirationen zu einer wertschätzenden und gleichwürdigen Haltung im Kontakt mit Kindern. Sie gibt Online-Kurse dazu, illustriert und arbeitet selbst an einer freien Schule (www.kinderwaerts.de).