Die Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt im BEFG

Interview mit Hanna Kunze

Das Interview führte Volkmar Hamp  |  Erschienen in HERRLICH 01|2024, Seiten 36-41  |  8:49 MIN  

„Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ ist eine Kampagne des Gemeindejugendwerks (GJW) im Bund Evangelisch-Freikirchler Gemeinden (BEFG), die der Prävention, dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vor (sexueller) Gewalt in unseren Gemeinden dient. Kommt es – trotz aller Präventionsbemühungen – zu einem sexuellen Übergriff, dann können Betroffene sich an die Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt im BEFG wenden. Dort arbeitet Hanna Kunze.

Können Sie uns kurz schildern, wie lange es diese Anlaufstelle schon gibt, warum und von wem sie eingerichtet wurde?

 Als die Anlaufstelle gegründet wurde, war ich selbst noch nicht dabei. Ich bin seit 2018 Verfahrensbegleiterin in der Anlaufstelle. Wir sind momentan drei Verfahrensbegleiter*innen und auch alle BEFG-extern. Für unsere Arbeit ist es wichtig, möglichst wenig mit einzelnen Personen aus dem Bund verbunden zu sein, um die Meldungen möglichst neutral bearbeiten zu können. Deswegen kann ich die Frage gar nicht so ganz konkret beantworten. Ich weiß, dass es seit 2009 im Bund die Arbeit „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ gibt. Christian Rommert, der bis heute auch die Anlaufstelle begleitet, hat dies mit initiiert. Anlass war damals eine eigene familiäre Betroffenheit und das Erkennen, wie notwendig die Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderschutz in Gemeindekontexten ist.


Natürlich interessiert uns, wie viele Beschwerdeverfahren aus Gemeinden unseres Bundes bei Ihnen auflaufen und um was für Übergriffe es dabei geht. Können Sie etwas zur „Statistik“ sagen? Gibt es Schwerpunkte bei bestimmten Delikten und Altersgruppen oder beim Geschlecht der Betroffenen?

 Ich selbst bin seit ca. vier Jahren dabei. In diesen vier Jahren haben wir vier Verfahren begleitet. Parallel gab es Anfragen, die nicht zu einem Verfahren geworden sind. Manchmal verweisen wir an passende Stellen im BEFG weiter, z. B. bei rechtlichen Fragen. Und manchmal verweisen wir an außenstehende Beratungsstellen, denn wir bieten keine therapeutische oder seelsorgerliche Begleitung an. Und manche Anfragen, die kommen, betreffen nicht den BEFG.

Unser Angebot ist sehr konkret als Verfahrensbegleitung beschrieben. Wir richten uns an von sexualisierter Gewalt Betroffene und an Personen, die von einem Fall sexualisierter Gewalt im Rahmen des BEFG wissen und aus verschiedenen Gründen nicht selbst mit der Leitung sprechen wollen oder können oder in ihrem Anliegen nicht gehört wurden. Wir nehmen die Meldung auf und geben diese an die Stelle weiter, die in der Verantwortung ist, den Fall entweder akut zu bearbeiten oder aufzuarbeiten. Wir regen Leitungen an, Fälle von sexualisierter Gewalt aktiv aufzuarbeiten und sich dafür kompetente Begleitung zu suchen.

Wir sind ursprünglich gestartet mit der Idee, dass wir Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen bearbeiten. Bisher melden sich aber vor allem Frauen im Erwachsenenalter, die sexualisierte Gewalt im Gemeindekontext erlebt haben. Wir gehen davon aus, dass es die Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche genauso gibt. Aber der Weg ist sehr viel länger, bis diese Fälle bei uns landen. Auch erwachsene Frauen haben meistens schon einen weiten Weg über Therapie etc. zurückgelegt, bevor sie die Fälle bei uns melden.

Vier Fälle in vier Jahren klingt nach nicht viel. Aber bisher war der Weg, um zu uns zu finden recht schwierig. Wir haben mit N.I.N.A. e.V. (Hotline des Bundes bei sexualisierter Gewalt) zusammen gearbeitet, die aber wiederum nur für Kinder und Jugendliche zuständig sind. Wir sind gerade dabei, dies zu erweitern und einen direkten Zugang per Mail und über ein Kontaktformular auf der Homepage des BEFG zu installieren. Denn grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass die Zahl der Fälle deutlich höher ist. In der Statistik der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) wird davon ausgegangen, dass jede*r siebte bis achte Erwachsene in der Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt hat; bei Frauen geht man von jeder fünften bis sechsten Frau aus (https://beauftragte-missbrauch.de). Diese Zahlen werden leider auch in den Kontexten des BEFG ähnlich aussehen.
 

Was geschieht, wenn Betroffene sich bei Ihnen melden? Wie geschieht die Kontaktaufnahme? Wie läuft ein „Beschwerdeverfahren“ im Detail?


Die Kontaktaufnahme erfolgt immer per Mail und ich als Koordinatorin werde dann eine erste Antwort schreiben und einen Überblick darüber geben, was wir als Anlaufstelle anbieten und wie die weiteren Schritte aussehen könnten. Außerdem erfrage ich, ob es sich um einen akuten Vorfall oder um einen Vorfall aus der Vergangenheit handelt und ob die betroffene Person minderjährig oder volljährig ist. Auch erfrage ich an diesem Punkt, im Rahmen welcher Institution oder Gemeinde die sexualisierte Gewalt stattgefunden hat.

An dieser Stelle muss ich prüfen, ob die benannte Dienststelle tatsächlich zum BEFG gehört. Wir bekommen immer wieder auch Meldungen, die in anderen Gemeindekontexten stattgefunden haben. Diese können wir natürlich leider nicht bearbeiten.

Nach dieser ersten Kontaktaufnahme übernimmt eine Verfahrensbegleiter*in aus unserem Kreis den Fall und damit auch den weiteren Kontakt. Zwischen Verfahrensbegleitung und meldender Person findet ein erstes Telefonat statt und vor allem eine Termin­absprache für ein direktes Gespräch, bei dem der Vorfall konkret aufgenommen wird.

Ganz wichtig übrigens: Wir hatten auch schon den Fall, wo die Meldung von der Freundin einer betroffenen Person ausging. Das ist jederzeit möglich! Häufig ist die Belastung für die Betroffenen so hoch, dass eine Meldung sehr viel Kraft kostet und ohne Unterstützung nur schwer möglich ist.

Das Gespräch zwischen Verfahrensbegleitung und meldender Person findet an einem gemeinsam vereinbarten Ort statt. Bei dem Gespräch kann sich die meldende Person gern auch Unterstützung mitbringen. Denn auch dies ist natürlich keine einfache Situation: allein mit einer fremden Person in einem Raum die belastenden Ereignissen zu schildern. Wir nehmen in diesem Gespräch alle Details auf, u.a. eine Schweigepflichtentbindung für die entsprechenden Leitungspersonen, an die der Vorfall weitergemeldet werden soll.

Mit diesem Gesprächsprotokoll wendet sich die Verfahrensbegleitung dann an das entsprechende Leitungsgremium und bittet auch dort um ein direktes Gespräch vor Ort, an dem mindestens 2-3 Leitungspersonen teilnehmen sollten. Erst in diesem Gespräch wird auf den Vorfall konkret eingegangen, und gemeinsam werden Schritte beschrieben, die als nächstes anstehen.

Das ist dann von Fall zu Fall sehr verschieden. Bei akuten Fällen, in denen der/die Täter*in noch aktiv in der Gemeinde unterwegs ist, sieht dies sehr anders aus, als wenn ein Fall bereits Jahre zurück liegt. In beiden Fällen legen wir aber Wert auf eine offene und gründliche Be- und Aufarbeitung. Denn nur so können präventiv die Lücken geschlossen werden, die Täter*innen in den Gemeinden ermöglichen, unbemerkt aktiv zu sein. Und gerade die offene Bearbeitung ermutigt andere, denen Ähnliches passiert ist, sich zu zeigen und Vorfälle zu melden.
 

Im Rahmen eines solchen „Beschwerdeverfahrens“ werden sog. „Verfahrensbegleiter*innen“ tätig, die die Betroffenen unterstützen. Was sind das für Menschen? Welche Ausbildung(en) bringen sie für diese Aufgabe mit? Wie werden sie begleitet und fortgebildet?

Wir sind momentan zu dritt, zwei Frauen und ein Mann. Wir alle haben Beratungsausbildungen und arbeiten aktuell oder haben in Beratungskontexten gearbeitet. In unseren Arbeitskontexten sind wir alle auf die eine oder andere Art mit den Themen Kinderschutz und sexualisierte Gewalt in Kontakt gekommen. Zwei von uns waren selbst an der Aufarbeitung von Fällen in Gemeinden beteiligt.

Ich selbst habe Kinderschutzkonzepte miterarbeitet und setze mich seit vielen Jahre mit dem Thema auseinander. Momentan nehme ich an einer Fortbildungsreihe des IPA (Institut für Prävention und Aufarbeitung) teil.

Trotzdem ist jeder Fall für uns neu. Es gibt zwar sehr konkrete Täter*innenstrategien, die sich immer wieder ähneln, aber insgesamt ist jeder Fall anders und wir lernen immer dazu.

Ein Kollege, der viele Jahre Verfahrensbegleiter in einem anderen Verbund war, unterstützt uns jederzeit mit einer Kurzberatung. Wir können auch Supervision in Anspruch nehmen. Aber wir bearbeiten auch jeden Fall im Tandem, was bedeutet, dass eine zweite Person aus unserem Kreis die bearbeitende Person begleitet und für Intervision (Kollegiale Beratung) jederzeit zur Verfügung steht.

Wenn Sie auf die Arbeit der Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt im BEFG in den vergangenen Jahren zurückblicken, was sehen Sie an „Erfolgen“ und „Misserfolgen“? Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft dieser Arbeit?

Ich weiß nicht, ob ich es so recht „Erfolg“ nennen möchte. Denn vor jedem Fall, den wir bearbeiten, sind Gemeinden, Leitungen und Strukturen zuerst daran gescheitert, Menschen in ihrem Kreis zu schützen. Und auch unsere Arbeit fühlt sich selten „gut“ an. Aber vieles ist in den letzten Jahren in der Arbeit der Anlaufstelle gelungen. Es ist berührend zu sehen, dass das Nichtgesehene gesehen und bearbeitet wird. Ich bin dankbar für jede betroffene Person, die den Mut hatte, sich zu melden und uns ihre Geschichte zu erzählen, und auch für Menschen, die ihre Sorge mit uns geteilt haben.

Auch für eine Gemeinde ist es oft sehr schwer, anzuerkennen, dass in ihrer Gemeinschaft Menschen sexualisierte Gewalt erlebt haben. Gleichzeitig ist der Schmerz damit endlich nicht mehr nur bei den betroffenen Personen. Und im besten Fall erleben Betroffene, dass ihr Leid anerkannt wird – was ihnen immer noch nicht abnimmt, dass sie ihr Leben mit diesem Erleben gestalten müssen. Eine Gemeinde, die so etwas erlebt und durchlebt hat, wird Präven­tionsarbeit hoffentlich als unerlässliche und beständige Arbeit in ihre Strukturen einführen. Auch das ist ein Erfolg, denn im besten Fall werden die Möglichkeitsräume für Täter*innen immer kleiner.

Auch die statistische Sammlung an einer zentralen Stelle sehe ich als wichtig und gelungen. Und ich mache Mut, sich auch bei uns zu melden, wenn ein Fall von sexualisierter Gewalt von der Gemeindeleitung gut bearbeitet wird. Wir können ihn dann trotzdem in die Statistik aufnehmen. In den Blick zu bekommen, welche Themen und Schwerpunkte wiederkehrend sind, ist wichtig, um zukünftige Präventionsarbeit zielgerichtet und gelingend zu gestalten.

Manches ist uns aber auch nicht gelungen oder wir sind noch nicht da, wo wir gern wären. Manche Anfragen würde ich mit meinem Wissen von heute jetzt anders bearbeiten. Die Anlaufstelle ist nach wie vor eine Pionierarbeit. Vieles entwickeln wir im Tun, denn es gibt keine fertige Ausbildung oder Fortbildung für Verfahrensbegleitung im Gemeindekontext. Die größte Herausforderung ist die Frage, wie betroffene Menschen zu uns finden. Das war in der Vergangenheit ein viel zu schwieriger Prozess, und wir hoffen sehr, dass die vereinfachte Kontaktaufnahme über die Homepage des BEFG den Zugang deutlich erleichtert. Es gab in der Vergangenheit viele Bemühungen, eine Art Fonds einzurichten für Betroffene, damit diese Unterstützung bei der Aufarbeitung bekommen können. Dies ist leider aus sehr verschiedenen Gründen nicht geglückt.

Ein Wunsch für die Zukunft ist die Erweiterung der Arbeit innerhalb des BEFG auf die Arbeit mit erwachsenen Betroffenen. Bisher ist die Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ an das GJW angegliedert und die Präventionsarbeit sowie die dafür erarbeiteten Handreichungen sind klar auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Diese entstandene Arbeit ist wirklich sehr gut und ein echter Vorreiter in diesem Bereich. Gleichzeitig gibt es zur Zeit keine bzw. wenig Sensibilisierungsarbeit in Bezug auf sexualisierte Gewalt an Erwachsenen. Für die Erarbeitungen von Risikoanalysen und Schutzkonzepten braucht es da einen zusätzlichen Schwerpunkt. Aber in allererster Linie fehlen momentan in vielen Gemeinden die Sensibilität und das Wissen, dass sexualisierte Gewalt an Erwachsenen vorkommt und es Strukturen gibt, die es Täter*innen einfach machen und für vulnerable Menschen eine Gefährdung darstellen. Dadurch werden Meldungen schnell nicht ernst genommen, verschwiegen oder auch einfach „zwischen den Zeilen“ von Erzählungen, die darauf hindeuten, nicht gehört.

Der Fachkreis Sichere Gemeinde im Gemeindejugendwerk kümmert sich um die Prävention in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Intervention bei konkreten Fällen sexueller Gewalt liegt bei der Anlaufstelle für Betroffene sexueller Gewalt. Wie gestaltet sich hier die Zusammenarbeit? Gibt es eine Verknüpfung zwischen Prävention und Intervention? Ließe sich hier aus Ihrer Sicht etwas verbessern?

Da wir als Verfahrensbegleiter*innen möglichst wenige Personen aus dem BEFG persönlich kennen sollen, um neutrale Begleiter*innen zu sein – egal, welche Person in welcher Position beschuldigt wird –, haben wir wenig Kontakt in den BEFG hinein. Natürlich gibt es trotzdem Schnittstellen. Einmal im Jahr treffen wir uns für zwei Tage, um die Themen zu besprechen, die für die Zusammenarbeit wichtig sind. Vertreter*innen aus dem Fachkreis Sichere Gemeinde und vom GJW sitzen mit in diesem Treffen. Dort besprechen wir dann auch die anonymisierte Statistik und halten fest, wenn uns dabei Besonderheiten auffallen, wie z. B. die Ausweitung der Anlaufstelle auf erwachsene Personen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Was wollen Sie den Leser*innen noch zusätzlich mitgeben?

Meldet euch bei uns, wenn ihr von sexualisierter Gewalt oder sexuellem Missbrauch im BEFG wisst oder selbst betroffen seid. Meldet uns auch Fälle, die offen sind und gut bearbeitet werden. Wir nehmen sie mit in die Statistik auf und wir können voneinander lernen.

Wenn du etwas ahnst, dir etwas komisch vorkommt, hol dir Beratung, zum Beispiel bei N.I.N.A. e.V. (0800 22 55 530), dem Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (0800 116 016) oder dem Hilfetelefon Gewalt an Männern (0800 123 99 00).

Nutzt Präventionsangebote oder initiiert sie in eurer Gemeinde. Das GJW hat da eine große Auswahl: von Handreichungen bis Workshops.

Hanna Kunze ist Sozialpädagogin und seit 2011 als freiberufliche Prozessbegleiterin und Organisationsentwicklerin, (Team)Coachin und Bildungsreferentin aktiv. Außerdem ist sie unabhängige Verfahrensbegleiterin der Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland.