15 Jahre „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“

Interview mit Christian Rommert und Juliane Neumann-Schönknecht

Das Interview führte Volkmar Hamp  |  Erschienen in HERRLICH 01|2024, Seiten 20-23  |  7:47 MIN   

 

Was hat euch damals, vor 15 Jahren, bewogen, das Thema „Kindesschutz“ im Gemeindejugendwerk und damit im BEFG einzubringen? Gab es dafür konkrete Gründe oder Anlässe? Woher kam der Impuls?

Christian: Bei mir war es die persönliche Betroffenheit innerhalb unserer Familie. In der therapeutischen Aufarbeitung von Missbrauchsfällen sprach die Therapeutin uns darauf an, ob wir unsere Energie nicht nutzen wollen, um etwas zum Thema zu bewirken und die Situation verändern zu helfen. Ich hatte damals sehr viel Energie. Ich spürte so viel Wut auf den Täter, dass ich manchmal gar nicht wusste, wohin damit. Für mich war das eine Rettung, diese Vision zu entwickeln, dass wenn unsere Kinder in irgendeine Freikirche in Deutschland wechseln, weil sie zum Studium gehen oder so, dass sie dort einen kreativen und sicheren Ort für ihre Kinder, unsere Enkel, vorfinden. Ich wollte einfach die Geschichte durchbrechen. Den Fluch. … Mit unserer Generation sollte die Missbrauchsgeschichte enden. Juliane war eine der ersten Personen, die von unserem Schicksal wusste. Wir arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in einer Gemeinde in Bochum. Und Juliane wechselte in dieser Zeit ins GJW nach Baden-Württemberg. Sie war diejenige, die uns einlud, ein Seminar zum Thema zu halten. Ich weiß nicht, wie sie darauf kam, aber für uns kam das genau zur richtigen Zeit.

Juliane: Ich war damals als Referentin im GJW Baden-Württemberg tätig, als uns verschiedene Personen auf neue Gesetze zum Kinderschutz aufmerksam machten. Dazu kamen einige persönliche Erfahrungen von Menschen, die im Kontext von Gemeinde richtig viel Mist erlebt haben. Als „Arbeitskreis Kinder“ führten wir dann die Schulung „Hab auf mich acht!“ durch. Diese Schulung behandelte den Schutz von Kindern und verschiedene Aspekte für ein gesundes Aufwachsen in Gemeinden, einschließlich Erster Hilfe und Gottesbilder. Zu diesem Seminar hatten wir auch Katrin und Christian Rommert eingeladen, die Augenöffner*innen für das Thema sexualisierte Gewalt in den Gemeinden waren. Nach der Schulung hatten wir so viele Anregungen für die Weiterarbeit, die wir mit anderen teilten, dass wir das Thema dann auf der GJW-Bundeskonferenz einbrachten. Katrin und Christian führten ihr Seminar auf Bundesebene durch, und dann wurde ganz fix bei einem Mittagessen mit einigen Leuten die Idee eines Arbeitskreises geboren.

Wie habt ihr die ersten Reaktionen auf eure Initiative damals erlebt? Im GJW? Im BEFG? Waren die Menschen aufgeschlossen, vielleicht sogar begeistert? Gab es Widerstände oder Gegenwind?

Christian: Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite war da eine große Offenheit und ein großes Interesse an dem Thema, aber es gab auch das Gegenteil. Da wurde ich schon auch mal als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Oder mir wurde geraten, ganz väterlich und freundlich, das Thema mal nicht so groß zu machen. Schon gar nicht in meiner Rolle als GJW-Pastor. Anfangs war das eher ein: „Ach, bloß nicht so einer mit einer Mission!“ Aber mit dem Aufdecken der Fälle in anderen Kirchen änderte sich das schlagartig, und es entwickelte sich auch bei denen, die erst reserviert waren, eine große Bereitschaft, das Thema anzuschauen, Ressourcen zur Verfügung zu stellen und etwas zu tun. Und die scharfen Kritiker*innen schwiegen. Auf der Ebene des Teams in Elstal war sofort eine große Offenheit, und auch, wenn jetzt Juliane und ich hier sitzen, so waren es ja auch Anne Naujoks, Mieke Bethke, Meike Telkamp, Katrin, meine Frau, und vor allem auch Du, Volkmar, die das mitgetragen und nach vorne gebracht haben.

Juliane: Ich erinnere mich eher an positive Reaktionen, bei denen deutlich wurde, wie relevant das Thema „Sichere Gemeinde“ ist. Zudem erhielten wir dezente Rückmeldungen von Betroffenen, die bestätigten, dass es wichtig sei, wenn sich ein Arbeitskreis damit beschäftigt und für das Thema sensibilisiert.


Wie verlief der Start der Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“? Was waren die Erfolge der ersten Jahre? Gab es Misserfolge?

Juliane: Lebhaft erinnere ich mich an unsere ersten Treffen in Kassel als kleiner Arbeitskreis. Wir haben so viel geredet, uns gegenseitig weitergebildet und bereits vorhandenes Material gesichtet. Zu Beginn fokussierten wir uns auf das Thema „Gewalt“: Wo beginnt sie? Was gehört alles dazu? Welche Gewaltformen erleben Kinder und Jugendliche in Gemeinden? Ich habe da im Rahmen dieses Entwicklungsprozesses eine große Offenheit wahrgenommen und so viel Einsatz, Leidenschaft und Herzblut von Anne, Christian, Katrin, Nathalie, Mieke, Volkmar und den anderen, die nicht viel später dazu kamen.

Es gab ja damals noch keine Person oder Stelle, die uns beauftragt hätte, ein Konzept zum Schutz von Kindern in Gemeinden zu entwickeln. Wir haben einfach damit begonnen, aus einer eigenen Motivation heraus, und im Laufe der Jahre wurde das Projekt dann immer umfangreicher. Neben der Grundsatzarbeit entwickelten sich Präventionsbausteine, wie ein Kodex, Materialien für Gruppen oder auch Risikoanalysen. Ein ganz wichtiger Bestandteil der Prävention ist ja die Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Kinder, die beteiligt werden, sind zwar nicht automatisch besser vor Gewalt geschützt, aber Ernstnehmen, Vertrauen, ein Gefühl für die eigenen Grenzen, Stärkung der Individualität und Möglichkeiten zur Mitgestaltung sind entscheidende Faktoren, um ein Bewusstsein für den eigenen Willen und auch persönliche Grenzen zu entwickeln. Partizipation war bereits vor der Einführung von „Sichere Gemeinde“ ein bedeutender Grundwert im GJW. Dies floss daher ganz organisch in die Entwicklung ein. Neu waren dann eher die Interventionsbausteine wie Handlungsabläufe, Einbeziehung von Expert*innen, die Einführung von Vertrauenspersonen sowie die Sensibilisierung von anderen Ebenen, die wiederum andere Themen bearbeiteten, wie beispielsweise Führungszeugnisse für Hauptamtliche und die Einrichtung einer Beschwerdestelle.

In Bezug auf Widerstände habe ich nicht viel wahrgenommen, da meine Perspektive eher die einer Referentin aus einem Landes-GJW und später einer Ehrenamtlichen war. Wie das so im BEFG, im Präsidium war, welche Widerstände es da gab, habe ich nicht so mitbekommen. Ich erinnere mich jedoch an unseren Eifer im Umgang mit dem Kodex und Schulungen im Kontext von Großveranstaltungen wie dem BUJU. Natürlich gab es da auch Menschen, die wir nicht vollständig überzeugen konnten oder die aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten mit dem Thema hatten. Aus meiner Sicht hatten wir da einen hohen Anspruch bei einer recht kurzen Anlaufzeit.

Christian: Eine der ersten Sachen aus meiner Sicht war, einen Kodex zu entwerfen und ihn den GJWs zu empfehlen. Außerdem waren wir bemüht, Trainingskonzepte zu entwickeln. Aus meiner Sicht wurde das Thema sehr gut aufgegriffen. Auch die Bundesgeschäftsführung und das Präsidium waren offen und sprachen Empfehlungen an die Gemeinden aus. Es wurden Vertrauenspersonen in den Regional-GJWs gesucht und die einzelnen Mitarbeitenden lernten und erkundeten, wie das Thema z. B. in den Sommer-Camps vorkommen und umgesetzt werden kann. Ich erinnere das als eine sehr wirksame und intensive Zeit. Knackpunkte kamen für mich dann später. Als klar war, dass ich meinen Vertrag nicht verlängern würde, hörte ich schon die Stimmen, die leise aufatmeten und glaubten, dass nun der Rommert mit seinem Lieblingsthema endlich Vergangenheit ist. Deshalb feiere ich wirklich, wie das Projekt von vielen anderen weitergetragen wurde, von Bastian Erdmann und Jason Querner zum Beispiel. Das war immer die Leidenschaft von mehr als ein oder zwei Leuten und das ist eine große Sache!
 

Was hat euch im Lauf der Jahre an der Kampagne „Auf dem Weg zur sichern Gemeinde“ begeistert? Was hat Mühe gemacht? Was hat geholfen, die Kampagne auf Dauer zu etablieren?

 
Christian: Naivität, ein starkes Team und die Tatsache, dass an Schlüsselpositionen Menschen saßen, die die Dringlichkeit des Themas verstanden hatten. 

Juliane: Mich hat begeistert, dass wir durch die Kampagne angefangen haben, über unseren Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu reden, ihn zu reflektieren bzw. dazu eingeladen haben. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich am Anfang meiner Arbeit im GJW mal mit einem Kind, das Heimweh hatte und weinte, von der Gruppe weg gegangen bin, raus vor die Tür. Ich wollte das Kind schützen. Dass das dem Kind vielleicht gar nicht recht gewesen ist und für dieses Kind keinen Schutz darstellte, war mir damals gar nicht bewusst. Sowas zu thematisieren, miteinander ins Gespräch zu gehen, sich von anderen Feedback zu holen und Offenheit herzustellen, sind für mich unglaubliche Lernerfahrungen, die die pädagogische Arbeit für mich ausmachen. Dass der Fokus bei „Sichere Gemeinde“ nicht ausschließlich auf sexualisierter Gewalt liegt, sondern dass diese Kampagne alle Formen von Gewalt im Blick hat, finde ich nach wie vor wichtig. Die breite Etablierung von „Sichere Gemeinde“ erkläre ich mir hauptsächlich durch all diese kompetenten, engagierten Menschen, die sich eingebracht haben und einbringen. Aber auch dadurch, dass Gewalt einfach ein Thema ist, das uns alle betrifft und dass wir alle irgendwie kennen – sei es als leichte Grenzüberschreitung, als tatsächlich erlebte Gewalt oder als Erfahrung, die unsere Eltern oder Großeltern machen mussten. Und wenn wir eigene Kinder haben, wissen wir, wie schwer es ist, es anders zu machen als unsere Vorfahren.

Wie seht ihr die Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ heute? Was hat sie in den 15 Jahren erreicht? Was sind eure Highlights, wenn ihr sie heute „von außen“ wahrnehmt?

 
Christian: Siehe oben (dass es weiterging)!

Juliane: „Sichere Gemeinde“ ist nach diesen 15 Jahren aus meiner Sicht gut etabliert und inzwischen ausgesprochen professionell aufgestellt mit Fachleuten und Fachstellen. Ich glaube, dass die Initiative in den letzten Jahren viel bewegt hat. Es gibt eine hohe Sensibilität und Handlungssicherheit. Wenn ich heute „von außen“ auf „Sichere Gemeinde“ blicke, freue ich mich besonders darüber, wie weit das Gemeindejugendwerk und der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) in diesem Bereich vorangekommen sind. Heute kommt ja kein Träger, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, an dem Thema vorbei. Es gibt zahlreiche Vorgaben, die von Trägern umgesetzt werden müssen. Ich glaube, das kann schnell überfordern und dann dazu führen, dass Konzepte einfach kopiert und ohne wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung übernommen werden. „Sichere Gemeinde“ ist über viele Jahre langsam und von innen heraus gestaltet worden. Dieser Entwicklungsprozess macht die Initiative nachhaltig und authentisch.

Was sind die Herausforderungen, die sich aus eurer Sicht heute für diese Kampagne stellen? Was wünscht ihr euch im Blick auf das Thema für die Zukunft? Vom GJW? Vom BEFG?

Christian: Ich glaube, der Einfluss von Institutionen ist begrenzt. Das ist eine Ernüchterung. Natürlich müssen und können wir sehr viel an Standards entwickeln, Anlaufstellen etablieren, Menschen schulen, präventiv aktiv werden, aber am Ende hast du immer diese eine Situation: Täter sind schlau! Sie suchen Schlupflöcher! Und am Ende ist da ein einzelner Erwachsener mit einem Kind. Einsam und alleine in einem Raum. Wenn wir wirklich Missbrauch verhindern wollen, müssen wir Kinder stark machen, dass sie „Nein!“ sagen – und eine Pädagogik leben, die genau das bewirkt. Und wir müssen Täter*innen-Arbeit machen, damit Menschen, die hier schuldig werden, Muster entwickeln, sich beim nächsten Mal gegen die Tat zu entscheiden. Institutionen stehen erst an dritter Stelle. Das meine ich mit der Begrenztheit von institutioneller Prävention und Intervention.

Juliane: Ich glaube, eine der Herausforderungen ist es, am Thema dranzubleiben. „Sichere Gemeinde“ zu leben, sensibel zu bleiben für den eigenen Umgang mit anderen. Und weiter Lernende zu sein, also in wirklicher Auseinandersetzung und mit Zeit. Auf Augenhöhe, über Altersgrenzen hinweg, inklusiv, mit allen.

Und ich denke, dass Betroffene von Gewalt stärker gehört und beteiligt werden müssen, wie z. B. im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Frage, wie die Beteiligung von Betroffenen in einem vergleichsweise kleinen und familiären Kirchenbund gelingen kann, ist bestimmt eine spannende, aber auch eine wichtige Aufgabe.

Danke für das Gespräch! 

Christian Rommert war Pastor, Geschäftsführer des GJWs und Sprecher der ARD-Sendung „Das Wort zum Sonntag“. Heute berät er als Facilitator Gruppen und Führungskräfte, schreibt für Magazine, initiiert Projekte und vermittelt das Denken mit dem Stift. 

Juliane Neumann-Schönknecht lebt mit ihrer Familie in Ostwestfalen und übt zu Hause täglich das wertschätzende und liebevolle Begleiten von Kindern. Beruflich ist sie inzwischen mit Menschen am anderen Ende des Lebens unterwegs.