„Hallo, ihr schönen Menschen!“

Mein Leben mit Legasthenie

Von Mira Kuder  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 28-29  |  3:34 MIN

„Hallo ihr schönen Menschen!“ – Das ist eine Begrüßung, die ich in meiner Zeit in Wien in den letzten vier Jahren sehr zu lieben gelernt habe. Mit ihr fühle ich mich jedes Mal vollkommen angenommen, so wie ich bin – mit all meinen Fehlern, Stärken, Schwächen, Beeinträchtigungen und meinem Aussehen. Diese Begrüßung sorgt dafür, dass ich mich in Gottes Haus zu Hause fühle. Aber wer bin ich? „Ich bin halt ich!“, pflege ich zu sagen. Aber ihr braucht, denke ich, ein paar mehr Infos zu mir: Ich bin Mira, 25 Jahre alt, von Beruf Erzieherin, und habe mein Leben lang mit verschiedensten Beeinträch­tigungen zu tun gehabt. Gleichzeitig bin ich effizient, gläubig, chaotisch, ungeduldig, merkfähig und vieles mehr.

In diesem Frühjahr wurde ich gefragt, ob ich nicht Interesse hätte, an der GJW­ Bundeskonferenz etwas über Inklusion zu sagen, und wie es für mich war, inkludiert zu werden. Dazu noch eine kleine Info zu mir: Ich bin Legasthenikerin, und habe eine an­geborene Hypothreose. Das heißt: Ich habe keine Schilddrüse. In meinem gemeindlichen Hintergrund wurde das einfach akzeptiert, soweit ich mich erinnern kann.
Doch die ersten Tests zur Feststellung meiner Legasthenie waren der absolute Horror für mich. Ich erinnere mich daran, wie wir durch dieses Tor gefahren sind, um in die Psychiat­rische Abteilung der Kinderklinik zu kommen, und wie es sich für mein siebenjähriges Ich angefühlt hat, dort hinein zu fahren. Ein Jahr später das Ganze erneut, um nach zusätzli­chem Legasthenie­Training Besserungen fest­ zustellen. Ich erinnere mich, wie enttäuscht ich von mir selbst war, denn ich sollte den Text vom letzten Mal erneut vorlesen, konnte es aber immer noch nicht.

Nach der Diagnose wurde die Schule für mich zumindest leichter. Eines hat mich meine ganze Schulzeit begleitet: Jedes Jahr stellte ich mich jeder Lehrkraft mit meiner Diagnose persönlich vor, und ich hatte diese immer griffbereit in meinen Unterlagen. Auf jedem Prüfungsbogen standen bei mir Name, Klasse, Datum und neben dem Namen LRS (Lese­-Rechtschreib-­Störung), denn sonst vergaßen die Lehrkräfte es.

In dieser Zeit fiel es mir schon schwer, diese Probleme und Belastungen Gott anzuvertrau­en. Denn es hieß immer: „Gott wird uns nicht mehr auflegen, als wir auch tragen können.“ Die Lieder im Gottesdienst kannte ich aus­wendig, bis ich anfing, auf Jugendfreizeiten zu fahren. Plötzlich kannte ich die Lieder nicht mehr. Ich habe gekämpft, doch ich konnte die Texte nicht schnell genug lesen. Das war das erste Mal, dass ich wirklich sauer auf Gott wurde, denn Lobpreis war mir wichtig. Ich bin rausgegangen und habe Gott angeschrien: „Wieso darf ich dich nicht loben?“ Als ich in den Saal zum Lobpreis zurückkam, konnte ich auch die Lieder mitsingen, die ich noch nie ge­hört hatte. Das ist auch heute noch so: Wenn ich Schwierigkeiten habe beim Lobpreis, mach ich die Augen zu und kann mitsingen.

Ein Punkt, bei dem mir meine Legasthenie in der Gemeinde noch aufgefallen ist, waren die Predigten. Denn Menschen lieben Fachbe­griffe. Heutzutage google ich in der Predigt nach der Bedeutung. Als Jugendliche habe ich einfach reingerufen und den Prediger oder die Predigerin unterbrochen. Denn ich wollte ja verstehen, was gesagt wurde. Oft kamen nach den Gottesdiensten Menschen zu mir und dankten mir dafür, dass ich nachgefragt hatte, denn sie kannten die Begriffe oft auch nicht. In all diesen Momenten wurde mir immer wieder klar, was für ein großes Geschenk Gottes ICH erfahren durfte mit meinen Eltern, meiner Heimatgemeinde und meiner fehlenden Scheu, Dinge anzusprechen und nachzufragen.

Im Laufe meines Lebens bin ich anderen Menschen mit Legasthenie, sowie mit anderen körperlich­geistigen Beeinträchti­gungen oder Unverträglichkeiten wie Zöliakie (Gluten­-Unverträglichkeit), Laktoseintoleranz, etc. in Kontakt gekommen. Viele von ihnen haben diese bedingungslose Akzeptanz nicht erfahren. Auch queere Personen in meinem Umfeld und meinem Hauskreis erzählten mir von fehlender Inklusion.

In Wien habe ich mehrfach erlebt, wie Men­schen nur teilweise am Abendmahl teilhaben konnten, da sie aufgrund von Unverträglich­keiten das Brot nicht essen konnten. „Es fühlt sich nicht vollständig an!“ oder „Ich wünschte, es würde auch Brot geben, das ich vertrage!“ waren Aussagen, die ich in dieser Zeit immer wieder hörte.

Letzte Woche war ich auf dem Freakstock Festival und habe bei einem Gespräch mit dem Küchenverantwortlichen eine wichtige Lektion gelernt. „Vegan ist nun mal der größte gemeinsame Nenner, an dem alle teilhaben können.“ Ich finde es ist super wichtig, als hörende, sehende, lesende, schreibende, sprechende, gehende, stehende, glaubende Person immer daran zu denken, was der größ­te gemeinsame Nenner ist, den wir in unseren Gemeinden haben! Denn Integration wird oft mit Inklusion verwechselt.

Integration heißt: Im Inneren des Gemeinde­hauses herrscht Barrierefreiheit, man muss aber die Eingangstreppe hochgehen, um dort hinzukommen.

Inklusion heißt: Alle gehen die Rampe vor dem barrierefreien Gemeindehaus hoch, wenn dort kein Platz für Treppe und Rampe ist.
Das bedeutet: Bei Integration passen sich einzelne Person ihrem Umfeld an, bei Inklu­sion passt sich das Umfeld an die einzelne Person an. Für viele Menschen ist es schwer, ihre Gewohnheiten zu ändern, um andere in ihre Mitte zu inkludieren (siehe den Artikel von Pia Kuhlmann).

Mein Wunsch ist, dass Menschen ohne Beein­trächtigungen merken, wie einfach es ist, sich auf Inklusion einzulassen. Also, ihr schönen Menschen: Kauft doch mal das gluten­ und laktosefreie Brot fürs Abendmahl. Druckt Liedtexte und Übersetzungen aus und stellt sie am Eingang zur Verfügung. Erklärt eure Fachbegriffe. Baut eine Rampe oder besorgt einen Gebärden-­Dolmetscher für eure Got­tesdienste. Habt keine Angst davor, bei der Inklusion Fehler zu machen. Macht Fehler und lernt aus ihnen.

Nächstes Jahr werde ich mir bei nxtchapter die Zeit nehmen, um herauszufinden wieviel Inklusion im GJW, in meiner Gemeinde und evtl. noch in vielen andern Bereichen mei­nes Lebens möglich ist. Und ich werde beten für Offenheit, Akzeptanz und Inklusion von allen Menschen. 

 


Mira Kuder
ist Erzieherin, hat in den letzten Jahren in Wien gelebt und macht im Augenblick bei nxtchapter mit, einem Orientierungsjahr des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R.