Under (de)construction
Macht eine Baustelle den Glauben unbekümmerter?
von Simon Werner | erschienen in HERRLICH 02|2022 | Seiten 28-30 | 5:59 Min
Das Wort Dekonstruktion hat in den vergangenen Jahren eine steile Karriere im christlichen Universum gemacht und etlichen Menschen einen Begriff für einen Lebensabschnitt gegeben, den viele Christ*innen erleben: die Glaubensbaustelle – Umbauarbeiten im eigenen Glauben.
Wenn ich mit meinem Sohn (9) Lego baue, dann sind die vorgefertigten Bausätze mit allerlei Sonderteilen zwar schön und schnell aufzubauen, viel interessanter sind dagegen die vielseitig einsetzbaren Steine, aus denen immer wieder neue und andere Bau(kunst)werke entstehen können. Wir bauen und wir bauen um, wir bauen auseinander und erneuern. Wir konstruieren, dekonstruieren und rekonstruieren.
Was ist Dekonstruktion?
Der Begriff kommt aus der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts und verbindet sich insbesondere mit dem Namen Jacques Derrida. Sein Interesse war, das Anliegen bzw. die Gegebenheiten hinter einem Text genauer zu betrachten. Das ist möglich, wenn man sich dessen bewusst wird, dass zu einem Text immer schon eine Entwicklung geführt hat – eine Entwicklung von Begriffen und Vorstellungen. Um im Bild der Legosteine zu bleiben: Wenn wir ein Haus bauten, wäre es möglicherweise eines mit Satteldach und roten Dachsteinen. Daraus lässt sich dekonstruieren, welche Prägung und welche Idee dahintersteht. Jemand aus einem anderen Kulturkreis hätte das Haus vielleicht ganz anders gebaut.
Dekonstruktion des Glaubens?
Der christliche Gebrauch des Wortes der letzten 10-20 Jahre trifft nicht genau die Frage Derridas. Er verwäscht den Begriff etwas und stellt doch ähnliche Fragen: Warum ist der Glaube so, wie ich ihn kennengelernt habe? Ist das die einzige Art zu glauben? Gibt es andere „Glaubenshäuser“ und wie sehen sie aus?
Per Social Media melden sich in den letzten Jahren vermehrt diejenigen zu Wort, die klassischerweise irgendwann den Eindruck hatten, für sie gäbe es in Gemeinden keinen oder viel zu wenig Platz. Sie gründen Podcasts und starten Insta-Kampagnen. Sie geben einem Phänomen einen Namen und Gesichter, das über viele Jahre nur beschwiegen wurde.
Vielleicht nahm man wahr, dass sich da wieder jemand aus der Gemeinde verabschiedet hatte. Man klagte gelegentlich darüber, formulierte Unverständnis oder schwieg verschämt. Selten wurden die Gründe klar kommuniziert und noch seltener zogen Gemeinden daraus konstruktive Konsequenzen. Da war halt wieder jemand weg, und mit einer Mischung aus bedauernder Anteilnahme und Selbstvergewisserung machte man weiter wie bisher.
Nun hat die Glaubens(um)baustelle junger Erwachsener einen Namen: Dekonstruktion. Manche sagen auch sehr aktiv: „Ich bin in einer Dekonstruktionsphase“ oder schlicht „ich dekonstruiere“. Das Legohaus wird zerlegt. Übrig bleiben Bausteine – vielleicht ein paar Baugruppen.
Der Grund für Dekonstruktion ist so einfach wie grundlegend: Es überzeugt nicht mehr. Die erlernte Form des Glaubens trägt das gegenwärtige Leben nicht mehr. Möglicherweise ist diese erlernte Form des Glaubens auch sprachlos den Anfragen und Herausforderungen des Lebens gegenüber. Oft ist es aber nicht nur das, sondern auch Verletzungen und Enttäuschungen bedingen den Prozess. Und immer wieder auch Missbrauchserfahrungen.
Die Chancen für junge Menschen und Gemeinden
Es ist ein schmerzhafter Prozess, wenn ein Mensch zu diesem Punkt kommt und sagt: „Es überzeugt mich nicht mehr, was ich geglaubt habe oder was ich als Glauben gelernt habe.“ Da verabschiedet sich jemand von Inhalten, die wichtig waren – für diese Person oder für andere Menschen drum herum. Und Gemeinden fühlen sich hilflos und zeigen sich verständnislos darüber, warum die gute Botschaft – in der Form, in der sie in der jeweiligen Gemeinde gelebt und verkündet wurde – nicht (mehr) überzeugt.
Menschen, die in einer Phase der Dekonstruktion sind, stellen Fragen. Und diese Fragen sind keine theoretischen Gedankenspiele, sondern sie sind häufig existenziell. Es geht um das eigene Leben und den eigenen Glauben.
Aber Menschen, die in der Phase der Dekonstruktion sind, stellen Fragen! Sie wenden sich nicht fraglos vom Glauben ab. Der erlernte Glaube ist für sie fragwürdig geworden und so würdigen sie ihn nun auch mit Fragen. Begegnen ihnen dabei Menschen, die ihre Fragen ernst nehmen und wertschätzen, die einen Weg des Fragens mitgehen, kann daraus eine Rekonstruktionsbewegung werden.
Denn die Dekonstruktionsphase hat nicht zwingend einen Trümmerhaufen als Ergebnis. Die Fragen haben nicht eine Glaubensverneinung zum Ziel, sondern oft eine Glaubensvergewisserung. Aber die Vergewisserung braucht Gegenüber, die mitfragen – die sich nicht durch die Fragen der Fragenden angegriffen fühlen und in eine Glaubensverteidigungshaltung flüchten. Der Glaube und letztlich Gott selbst brauchen keine Verteidigung.
Dieses Mitfragen, die gemeinsame Suche nach Gott als Schöpfungs- und Versöhnungskraft ist die Chance von Gemeinden gegenüber Menschen in der Dekonstruktionsphase. Hier kann ehrliches Miteinander entstehen. Wer aber Menschen in der Dekonstruktionsphase mit starren Formeln begegnet und zur Verteidigung bestimmter Überzeugungen aufruft, wird in der Regel keinen Erfolg haben und kaum Zugang zu denjenigen finden, die dekonstruieren.
Wie Gemeinden mit der Dekonstruktion junger Menschen umgehen, wird sie in deren Augen entweder glaubwürdiger oder unglaubwürdiger machen. Hier sind Menschen als Gesprächspartner*innen gefragt, die ihre eigenen Suchbewegungen im Glauben ins Gespräch bringen und so Verständnis für die Dekonstruierenden aufbringen können.
Kann man also mit Baustelle unbekümmerter glauben?
Die Dekonstruktion ist kein Prozess, der an und für sich Unbekümmertheit verheißt. In der Regel investieren Menschen in dieser Phase viel Kraft in die Suche nach Antworten auf ihre Fragen. Auslöser für die Fragen ist allerdings die Suche nach einem Glauben, der überzeugt. Wenn der im besten Fall durch einen Dekonstruktionsprozess hindurch errungen ist, lässt sich unbekümmert(er) glauben als noch davor. Und wer diesen Prozess selbst erlebt hat, ist meistens auch ein ehrliches und offenes Gegenüber für andere Menschen, die auf der Suche sind.
Simon Werner mag es, Fragen im und an den Glauben zu stellen. Der Grund: Dadurch kommt er immer wieder in der Nähe Gottes an.