Unbekümmert leben. Was geht?

Eine Erkundung

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Von Anja Neu-Illg  |  Erschienen in HERRLICH 02|2022, Seiten 6-9  | 7:58 Min

Immer Sommer
„Ich wünschte, es wäre immer Sommer.“ – Sie ist sechs Jahre alt und wünschte, es könnte immer so schön sein wie jetzt hier in Dänemark unter dem offenen Sternenhimmel. 

Unbekümmert geht nicht
Nach dem, was wir im Moment über die stattfindende Klimaveränderung wissen, wird der Sommer 2022 meiner kleinen Tochter als vergleichsweise kühl und katastrophenarm in Erinnerung bleiben, wenn sie älter ist. Und weil ich davon ausgehe, dass es in ihrem Leben noch viel mehr „Sommer“ sein wird, als uns allen recht sein kann, klappt das nicht mit der Unbekümmertheit.

Sei jetzt unbekümmert!
Der Aufforderung des Nehemia-Buches, nicht bekümmert zu sein, da die Freude am Herrn unsere Stärke sei (Neh 8,10), kann ich nicht so ohne Weiteres nachkommen. Also, ich würde gern, aber ich kann nicht. Ich kann mich auch nicht auf Befehl freuen oder alle Sorgen vergessen. Der morgige Tag sorgt übrigens auch nicht wirklich für sich selbst (Mt 6,34), jedenfalls nicht so, dass wir keine Verantwortung hätten für die Tage, die nach dem morgigen Tag kommen.

Frei, zu handeln
Trotzdem wäre ein bisschen mehr Unbekümmertheit manchmal nicht schlecht. In dem Sinn, dass Kummer und Sorgen nicht so mächtig werden, dass sie einen am Leben hindern und daran, das zu tun, was jetzt notwendig ist. Unbekümmert, frei, sorglos, mutig, ungehalten, unaufhaltsam.

Mangel an Information
„Unbekümmert“ hat auch etwas Naives, das einem nur möglich ist, wenn man über den Zustand der Welt nicht ausreichend informiert ist. Den Gedanken an die Folgen des Klimawandels für unsere Kinder krieg ich nicht weggelobpreist, nicht weggelächelt. Auch mehr Selfcare und weniger Nachrichten helfen da nicht.

Jenseitsvertröstung
Und die Aussicht auf die Ewigkeit scheint mir in dem Zusammenhang eine unredliche Vertröstung: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“ (Röm 8,18)

Doch bevor nun „dieser Zeit Leiden“ von mir allzu sehr meditiert werden, will ich kurz innehalten und überlegen: Wer schreibt hier? Eine weiße Nordeuropäerin, die auf einem Haufen Privilegien sitzt und sich Gedanken darüber machen kann, was sie wirklich braucht, weil sie nämlich zu viel von fast allem hat.

Wir müssen uns viel mehr kümmern
Wir sind wahrscheinlich schon viel zu lange viel zu unbekümmert und müssten viel mehr in ein Handeln kommen, das die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels wenigstens begrenzt.

Angst oder Hoffnung?
Klimaforscher, Politiker und Kommunikationspsychologen stehen regelmäßig vor der Frage: Wie kriegen wir die Leute in ein anderes Handeln? Mit Angst oder mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft? Malt man ein Schreckensszenario oder ein Bild von einer guten, möglichen Welt?

Unbekümmert handeln
Eine Unbekümmertheit à la „et hätt noch immer jot jejange“ ist nicht wünschenswert. Wir müssen aus einer Unbekümmertheit raus, die sich schlicht und einfach ins Hier und Jetzt flüchtet und hofft, dass „Saat und Ernte, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22) schon irgendwie immer weiter gehen. Und gleichzeitig braucht es unbekümmerte Menschen, die ins Handeln kommen und sich nicht dadurch aufhalten lassen, dass sie sich die ganze Zeit Sorgen machen.

Biblische Zukunftsbilder
Welche biblischen Zukunftsszenarien nehmen wir so zu uns? Und helfen sie, die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen, vielleicht sogar unbekümmerter zu leben? Wo soll das alles enden? Auf einem großen Friedensfest der Völker (Jes 25,6-9) oder in einem Gerichtssaal (2 Kor 5,10). Beide Zukunftsbilder malt uns die Bibel. Und noch mehr. Und wer jetzt gar keine Ambiguitätstoleranz hat, der bringt die Dinge in einem Endzeitfahrplan auf einen gedachten Zeitstrahl.

Kraft der Bilder
Mir hilft es, die Kraft in beiden Bildern zu nutzen. Wer auf ein Friedensfest der Völker zulebt, der wird auch jetzt schon gerne Gäste einladen und Frieden suchen, wo es nur geht, ohne dass sich die Hoffnung einfach in die Gegenwart hinein auflöst. Wer auf ein Szenario im Gerichtssaal zulebt, für den ist nicht egal, was er tut oder lässt. Wenn alles noch einmal angeschaut wird, dann auch mein Tun und mein Unterlassen. Auch haben die Gewalttätigen nicht das letzte Wort. Das ist der Trost eines kommenden Gerichts.

Keine Angst
Ist der Festsaal das Bild einer guten, möglichen Zukunft und das Gericht das Schreckensszenario? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass beide Bilder ihre Kraft für die Gegenwart nur entfalten, wenn sie ohne Angst auskommen. Wir werden nicht offenbar vor irgendeinem Richter ohne Ansehen der Person, sondern „wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ (2 Kor 5,10).

Ich gehe also von einem barmherzigen Richter aus, vor dem wir uns nicht selbst erlösen müssen – auch nicht durch Glauben – und vor dem es dennoch nicht egal ist, was wir tun oder lassen. Wenn aber im Gericht gar keine Gefahr droht, wieso halten wir uns dann an das, was gut ist? Vielleicht tun wir das Gute einfach, weil das Gute gut ist? Und weil es uns gesagt ist? (Mi 6,8)

Eingewurzelt in der Liebe
Wir brauchen eine Spiritualität die uns Kraft gibt, die zutiefst in der Liebe einwurzelt (Eph 3,17) und zugleich eine Weite hat, die erkennt, dass es da längst andere gibt, die guten Willens sind, das Gute zu tun (Lk 2,14).„Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.“ (1 Joh 4,18)

Wie kann man in der Liebe Wurzeln schlagen?
Denn das brauchen wir: tiefe Wurzeln in der Liebe. Wir brauchen ein Gefühl dafür, dass wir zutiefst und von innen her ohne jede Bedingung geliebt sind. Und wir brauchen Orte für den Kontakt mit diesem Gefühl. Wo werde ich unbedingt geliebt, angenommen, geachtet? Wo ist der Ort der Freude über meine Wahrheit? Wo kannst du deine Wahrheit zeigen? Dich verletzlich zeigen? Das sind die Orte, wo du lernen kannst, deine Entscheidungen nicht von dem, was du fürchtest, leiten zu lassen, sondern von dem, was du hoffst.

Liebe spüren
Christliche Gemeinschaft kann, wenn es gut läuft, ein Ort sein, an dem du an dein unbedingtes Geliebtsein erinnert wirst. Nicht, weil man es dir sagt oder an die Wand schreibt, sondern weil man es dich spüren lässt. Irgendwo dort – am Ort der Freude über deine Wahrheit – wird auch die Freude am Herrn zu finden sein, die uns stark macht (Neh 8,10). Es reicht nicht, dass wir sie uns einbilden oder einreden lassen.

Das gute Leben wagen
Wird uns das unbekümmert machen? Vielleicht nicht. Vielleicht hilft es uns, das gute Leben zu wagen, zu spielen, mutig zu sein, hoffnungsvolle Hoffnungsträger. Vielleicht ist mir das aber auch alles schon wieder zu vollmundig.

Hoffnungsschimmernd statt unbekümmert
Eine andere Hoffnung für die Zukunft von Familie Mensch will ich mir von der Bibel erzählen lassen. Das macht mich nicht unbekümmert, aber vielleicht so etwas wie hoffnungsschimmernd. Und das würde mir eigentlich schon reichen.

 

Anja Neu-Illg (47) ist Theologin, Geistliche Begleiterin, Systemische Organisationsentwicklerin und Radiosprecherin. Sie arbeitet als Pastorin in Rostock. Ihre Freunde finden es witzig, dass ausgerechnet sie etwas über „unbekümmert leben“ schreiben sollte. Es sei doch immer wieder faszinierend, wie oft der Bock zum Gärtner gemacht würde.