Unbekümmert leben mit 80+
Kann man heute noch unbekümmert leben?
von Dietmar Naujoks | erschienen in HERRLICH 02|2022 | Seiten 44-47 | 7:48 Min
Es gibt viele Gründe, gerade jetzt nicht mit einer rosaroten Brille durch den Tag zu hüpfen. Wir bewegen uns maskiert, schleichend, ausweichend, voneinander weg. „Haltet Abstand, sonst ist alles vorbei!“
Und das steht nun auch fest: Wir müssen für die Zukunft besser gewappnet (bewaffnet), besser gerüstet (aufgerüstet) und wehrhafter (wehrtüchtiger) sein. „Frieden schaffen ohne Waffen“, das geht nicht mehr. Die Unbekümmerten bestraft das Leben. Die Gegenwart wird teuer.
Ich möchte unbekümmert sein, nicht kümmerlich alt.
Mit 82 Jahren fühle ich mich nicht zu alt, noch Wünsche zu haben. Dafür lebe ich und darum bete ich. Meine Wünsche gehen in viele Richtungen.
Sie beginnen mit meiner Gesundheit und der meiner Familie. Noch geht es uns gut. Wir tun alles, was dazu nötig und möglich ist. Die Altersvorsorge steht. Aber wir wissen, dass die Zukunft morgen beginnen kann. Man braucht nicht lange auf sie zu warten. An irgendeinem Morgen wird alles ganz anders sein.
Es wurde für uns schon einmal alles anders. Als vor acht Jahren unser Sohn starb. Das war schmerzhaft und bitter. Ab wann darf man dann wieder unbekümmert weitergehen, heiter und lächelnd? Natürlich nicht sofort, doch mit der Zeit irgendwann schon. So sagt man.
Zeit heilt Wunden und lindert Schmerzen.
Man wundert sich, was auf einmal wieder geht. Was war oder was ist das, die Zeit? Woher kommt sie?
Es war unsere Zeit. Wir haben sie bekommen und genutzt. Gott hat sie uns gegeben, uns gelassen.
Gott hat Zeit. Bei ihm gibt es weder Zeitüberschreitung noch Zeitunterschreitung. Er steht nicht unter Zeitdruck. Er plant seine Zeit nicht. Auch nicht mit uns. Er überlässt sie uns. Meine Zeit wird zu seiner Zeit.
Unsere Klagen über Zeitmangel und Zeitgrenzen sind unsinnig. Gott nimmt sich Zeit für uns. Darum brauchen wir nicht alle Zeit der Welt. Gott hat Zeit für uns. Schließlich sind wir keine leichten Fälle. Gönnen wir ihm diese Zeit. Sie lässt uns unbekümmert bleiben, weil es keine Sollzeit ist.
Und dann sind da die Menschen!
Die Armen und die Reichen, die Opfer und die Täter, die Fernen und die Nahen, die Guten und die Bösen, die Geliebten und die Ungeliebten. Sie stehen mir vor Augen. Jederzeit. An jedem Ort. Wie soll ich von ihnen reden und denken, wenn ich kein gutes Bild von ihnen habe?
Darunter sind viele Einsichtslose, die Furchtbares tun können. Ich kann nicht unbekümmert mit ihnen umgehen. Manchmal gehe ich mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, ein andermal fliehe ich mit Entsetzen vor ihrer Herzlosigkeit. Mein Herz fliegt vertrauend einem Menschen entgegen, bei einem anderen verschließt es sich plötzlich wegen einer untragbaren Enttäuschung. Meine Offenheit ist dahin. Glauben und hoffen kann ich noch, aber unbekümmert lieben nur noch eingeschränkt. Möge Gott eine Wende bewirken! Bei den anderen zum Guten und bei mir zur Güte hin.
Wir brauchen eine neue Hinwendung zu allen Menschen, die nicht immer zu unseren Liebsten und doch zur Menschheit gehören. Wie wir selbst. Wir leben schließlich von vielen Menschen, die unbekümmert zu uns stehen.
Bekümmert bin ich beim Blick in eine andere Richtung.
Nämlich bei der Frage: Wohin gehen die Wege der Kirchen? Auch die der Freikirchen. Wieweit sind unsere Gemeinden noch Schutz- und Lebensräume für die Unbekümmerten?
Die Welt wird groß, unsere Gemeinden immer kleiner. In ihnen predigen viele Profis und manche Laien. In der Regel wird gut gepredigt: leidenschaftlich, wuchtig, drastisch. Aber wir wachsen nicht.
Sind unsere Herzen zu klein für die großen Themen der Welt? Wir erleiden Verluste verschiedenster Art. Welche Botschaft haben wir noch? Man glaubt den Physikerinnen und Psychologen mehr als Theologen und Pastorinnen.
Viele Dinge haben sich gewandelt oder aufgelöst. Jede Gemeinde kann dazu ihre eigenen Erfahrungen, Klagen und Bekümmernisse aufzählen. Unsere Sorgen und Lasten teilen wir mit nahezu allen christlichen Kirchen. Wie geht es weiter?
Fühlen wir uns in unseren Gemeinden noch wohl? Sind Wohlfühl-Gemeinden unbekümmert lebendige Gemeinden? Es sieht so aus. Das Wohlfühlen gehört zu uns. Es ist wesentliches Kennzeichen einer unbekümmerten Glaubens- und Lebensgemeinschaft. Wir sollten dieses hohe Gut nicht aufgeben – unter welchen Bedingungen, Umständen und Verlusten wir derzeit auch leben müssen.
Aber haben wir noch eine Zukunft?
Was und wer da kommt, oder auch nicht, wissen wir nicht. Auf jeden Fall haben wir eine Gegenwart, die bleibenden Geschenke des Himmels:
- Wenn Menschen in gottloser Zeit an Gott glauben können.
- Wenn sie die Kräfte des Himmels erleben, ohne alles zu begreifen.
- Wenn sie sich für eine persönliche Jesusnachfolge entscheiden.
- Wenn sie gerne in der Bibel lesen.
- Wenn sie ihren Glauben und das Leben in geistlicher Gemeinschaft teilen.
- Wenn sie in der Lage sind, die Lasten anderer zu tragen.
- Wenn sie ihre Gottesfreude von drinnen nach draußen tragen.
- Wenn sie ihr Leben sinnvoll zu Ende gehen sehen in sinnloser Zeit.
Oft wird gesagt, alte Menschen wollten die Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen. Nein! Die alte Generation möchte der jungen helfen, gut gerüstet in die Zukunft zu gehen. Daran möchte ich unbekümmert mitwirken, auch als „stillgelegter Ruhestands-Pastor“.
Und doch: Über unsere bedrückende Gegenwart kann uns keine Zukunft hinwegtrösten. Die Gegenwart der Gemeinde Jesu ist ihre Gegenwart in der Welt. Gemeinde ist kein ideales, heiliges, reines, isoliertes Schutzgebilde für Unbekümmerte, irgendwie schwebend zwischen Himmel und Erde. Wir sind nicht „Frei-Kirche“, wenn wir nur bei uns bleiben und die Augen vor den Abgründen der Wirklichkeit verschließen. Gottes Gemeinde sind wir nicht nur auf unseren Grundstücken, sondern als unbekümmerte Menschen des Evangeliums in der Welt und für diese Welt.
Darum können wir an den Problemen und Konflikten unserer Erde und unserer Stadt nicht vorbeigehen. Sie gehören in unsere Gottesdienste. Dort sollen wir sie als unsere Last und auch als unsere Mitschuld zum Ausdruck bringen. Menschen, die diese Lasten nicht mehr tragen und ertragen können, setzen ihre Hoffnung auf uns. Darum dürfen wir am Kummer der Welt nicht vorbeipredigen, vorbeibeten und vorbeisingen.
Auch die biblischen Texte gehören in unsere Gottesdienste. In ihnen kommt Gottes Wort zu uns. Es hält uns zusammen, verbindet, tröstet und richtet auf. Die Bibel – aus welchen Gründen auch immer – dort rauszuhalten, wo sie hineingehört, macht uns form- und gestaltlos. Und zukunftslos. Unbekümmert mit der Bibel zu leben, macht uns unersetzlich.
Gott hat uns viel zu sagen und viel zu geben.
Er hat uns immer Zeit und Raum gelassen für das Neue und Unbekannte, für Fremdes und Überraschendes. Und für Wachstum. Das sind unsere Erfahrungen, auf die wir dankbar zurückblicken. Seine Fülle war und bleibt unermesslich. Aus ihr schöpfen wir – unerschöpflich.
Daraus entstehen hohe Erwartungen: Aus dem Vollen schöpfen! Wir drücken das in unseren Gebeten nach der „Fülle des Lebens“ und „erfülltem Leben“ aus. Wenn in Gott die Fülle ist, dann kann ich davon nicht genug bekommen. Ich erstrebe sie in den Standardwünschen und Dauerbitten meiner anhaltenden Gebete.
Doch das Sicht- und Fassbare kommt nicht immer. Mittlerweile bete ich vorsichtiger, bescheidener, zufriedener. Denn erfülltes Leben liegt nicht immer auf höchstem Niveau und auch nicht in unserer Hand. Es geht nicht ums Ganze, nicht um Alles, nicht um totale Fülle. Das Evangelium Jesu hat seinen Ursprungsort in den Abgründen der Welt. Von dort steigt die Fülle des Lebens trotz unerfüllter Wünsche auf.
Sich leer oder gar abgründig zu fühlen, ist gut, denn auch das ist volles Leben.
Wir sind nicht so groß, wie wir meinen. Nicht weiter zu wissen oder zu verlieren, ist ebenso gut, denn auch das ist volles Leben. Ratlos zu sein und einen verkehrten Weg gewählt zu haben, ist gut, denn auch dort beginnt erfülltes Leben.
Leben wir also unbekümmert mit unseren Grenzen, mit dem Unfertigen, mit allen Halbheiten und Verlusten, denn auch dort finden wir die Fülle Gottes.
Wie verlässlich und unbekümmert können wir bei Gott bleiben?
Wir leben in einer Zeit mit vielen Menschen, die das nicht mehr können, die ihren Halt verloren haben. Für viele ist Gott zu widerspruchvoll geworden. Er schweigt zum Elend und zum Blutvergießen in seiner Menschheit und zu den Katastrophen in seiner Schöpfung.
In der Tat - wir haben da alle unsere Warum-Fragen. Es gibt Fragen, die nie richtig beantwortet werden können, aber immer wieder neu gestellt werden müssen.
Die Bibel hilft mir bei der Antwortsuche. Nicht indem sie mir Lösungen für alle Probleme bietet, sondern indem sie mich in Gottes Geheimnis hineinzieht. Das reicht mir, um etwas unbekümmerter zu leben, zu glauben, zu lieben, zu hoffen und zu handeln.
Dietmar Naujoks ist Ruhestandspastor und gelegentlich noch Wanderprediger. Er liebt die Welt und die Quantenphysik, die Bibel und das Theater. Er lernt Gedichte, macht Sport und kann noch beten.