„Kirche bedeutet für mich ein Stück Heimat!“

Ein Interview

Von Volkmar Hamp mit Rosalie Renner  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 22-25  |  6:07 MIN

Liebe Rosalie, du bist ein junger Mensch mit einer, wie man so sagt, „schweren Behinderung“, hast einen eigenen Blog (https://rosalie­renner.jimdofree.com/), schreibst Bücher, engagierst dich für Barrierefreiheit und Inklusion und gegen Ableismus, auch in der Kirche ... Magst du dich kurz vorstellen und ein paar Worte zu dir und deiner Lebensge­schichte bis hierhin sagen? 

Ich bin Rosalie Renner aus der Oberlausitz in Sachsen. Ich studiere Kulturwissenschaften, also Literaturwissenschaft und Philosophie, an der Fernuniversität Hagen. Allerdings nur in Teilzeit. Zuerst habe ich das vor allem so gemacht, weil ich beim Tippen und Schreiben einfach mehr Zeit als andere brauche. Aber ich habe schnell gemerkt, dass ich nebenbei auch noch Zeit für Ehrenamtliches rund um Kirche und Inklusion habe. Und natürlich für meine Gedichte und für meine Homepage! Mir macht es Spaß, viel Verschiedenes zu machen. Ich bin halt bunt und passe in keine Schublade. Die sprenge ich mit meinem E­-Rollstuhl sowieso!
Ach so, das wisst ihr ja noch nicht: Ich werde beatmet, über eine Magensonde ernährt und erlebe und genieße die Welt immer in der Waagerechten. Ich habe spinale Muskelatrophie Typ 1. Das ist Muskelschwund. Für vieles fehlt dadurch die Kraft, und die Kommunikation ist etwas schwierig, aber für mich ist das völlig normal. Damit kann man leben – und das sogar richtig gut! Die Ärzte dachten zwar, dass ich nur zwei Jahre alt werde, aber ich mach nicht gern, was man von mir erwartet, und das wird sich auch nicht ändern. Inzwischen bin ich 23 Jahre alt. Gott sei Dank! 

Einer deiner Blog­-Artikel trägt den Titel „Ableismus in der Kirche ­ Gut gemeint ist nicht gut gemacht“. Was bedeuten dir die Kirche und der Glaube? Welche Rolle spielen sie in deinem Leben? Und wie hat deine Behinderung deinen Blick auf Kirche, Glaube, Theolo­gie geprägt?

Für mich ist Glaube selbstverständlich und wichtig. Ein kosmischer Zufluchtsort, unabhängig von der Institution Kirche, zum Kraft tanken, Entscheidungen treffen und um vieles besser zu verstehen.
Kirche bedeutet für mich, bei aller Kritik oder manchmal Distanz, auch ein Stück weit Heimat. Ich bin mit meiner Gemeinde aufgewachsen. Hier hatte ich das erste Mal durch den Konfirmandenunterricht und dann die Junge Gemeinde regelmäßig Gemeinschaft mit vielen Gleichaltrigen, wo vorher aufgrund häufigerer Erkältun­gen, Lungenentzündungen oder so eher ein paar kleine Treffen mit Freunden stattfanden. Unterrichtet wurde ich auch immer zu Hause, weil es mit Tempo, Kommu­nikation und Unterstützung nicht anders ging und für mich so perfekt war. Die Gemeinde war da von Anfang an eine super Möglichkeit, wunderbare Erinnerungen zu schaffen. Oft genug wurde ich schon als Kind samt Liege gemeinsam die Treppe hochbugsiert. Außerdem traute man mir hier was zu, ohne dass ich mich erst be­ weisen musste, sodass ich etwa mit anderen die Junge Gemeinde leitete.
Heute helfe ich viel in der Evangelischen Jugend in Sachsen, vor allem im Arbeitsbereich „Jugendarbeit Barrierefrei“. Auch mit dem „Runden Tisch Inklusion“ oder mit dem Projektbeirat „Zusammen? Geht doch!“ zur Zusammenarbeit von Jugendarbeit und Behinder­tenhilfe versuche ich, Inklusion in der Kirche durch Aufklärung, Mitdenken, Veranstaltungen, Texte und Webseiten voranzubringen.
Kirche und Theologie sind toll, bauen Menschen auf, können Nächstenliebe verbreiten. Doch sie sind längst nicht so flexibel und offen, wie sie tun. Typisch Mensch: Erst Sprüche klopfen und dann kneifen, weil etwas ganz neu und anstrengend und teuer wäre. Inklusion ist aber nicht neu! Betroffene werden nur lauter und ungeduldi­ger. Im Herzen verbundene Mitkämpfer gibt es natürlich auch. Diese sollten aber zur Regel werden. 

Wie nimmst du den Umgang mit dem Thema „In­klusion“ in der Kirche (in deiner Kirche?) wahr? Du schreibst in deinem Blog über deinen „Traum von Bar­rierefreiheit“ und „Die Einfachheit von Inklusion“. Was wünschst du dir hier von der Kirche? Was läuft schon gut? Wo ist noch Luft nach oben? Und weil HERRLICH ein Magazin für Mitarbeitende in der kirchlichen Ar­beit mit Kindern und Jugendlichen ist: Gibt es etwas, das deiner Meinung nach für diese Altersgruppe von besonderer Bedeutung ist?

Wie gesagt: In meiner Kirche und meinen Ehrenäm­tern fühle ich mich rundum angenommen von den Menschen. Wenn da diese Verbundenheit herrscht, wie eben im Dorf, klappt Inklusion, ohne dieses Wort überhaupt zu kennen. Woanders wird sie hingegen verdrängt. Das sei schließlich Aufgabe der Diakonie, und auf keinen Fall will man Altes loslassen...
Ich wollte zum Beispiel ein FSJ machen. Das geht von zu Hause aus, wie uns Corona lehrte, aber davor war es undenkbar, sodass ich ein langes Praktikum draus machte.
Auch in der kirchlichen (oder gesellschaftlichen?) Denkweise und Theologie steht noch viel Arbeit bevor, zum Beispiel in der Auslegung von Bibelge­schichten: Warum werden Heilungsgeschichten im Neuen Testament immer so verstanden, dass Jesus gegen die böse Krankheit kämpfen muss? Im Gegen­satz zu uns ist Jesus sich da nicht immer so sicher, denn er fragt in Markus 10,51 den Blinden zuerst, was dieser überhaupt von ihm will. Er hätte um etwas ganz anderes bitten können. Die Perspektive lässt die Geschichte völlig neu erscheinen.
Genau das wünsche ich mir für jede Kirche: neue Perspektiven. Nicht umsonst gibt es „feministische Theologie“, „Disability Theology“, „Schwarze Theolo­gie“ und bestimmt noch mehr, von dem ich noch nie gehört habe...
Ich denke, Kirche macht viel zu oft beim sogenannten „Mainstream“ mit, bei allen möglichen neuen und alten Vorurteilen. Das kann und muss besser gehen! Sie sollte ein Schutzraum gegen alles Starre sein, für jeden, und Diskriminierendes von außen raushalten. Gerade Jugendliche geben sich nicht mit Altem zufrie­den. Sie wollen mitbestimmen und ernstgenommen werden in all ihrer Vielfalt. Dazu gehört auch, Men­schen mit Behinderungen nicht als passive Fürsorge­ Empfänger zu sehen, sondern Teilhabe und Teilgabe zu ermöglichen, offen für ihre Fähigkeiten zu sein.

Auf deinem Blog gibt es eine eigene Kategorie „Wit­ze“. Welche Rolle spielt Humor in deinem Leben? Darf man deiner Meinung nach Witze über Menschen mit Behinderungen machen? Was unterscheidet dabei „gute“ von „schlechten“ Witzen? 

Humor ist mir sehr wichtig. Ich lache oft über mich und zum Beispiel meine „Futter­-Pipeline“ im Bauch. Wer sich selbst zu ernst nimmt, ist mir eindeutig zu verkrampft. Ich sage über mich selbst, dass ich sabbere oder dass ich offline bin, wenn die Hörgeräte eine leere Batterie haben. Ist ja so!
Über jeden sollte man Witze machen dürfen, denn schließlich gehört jeder zur Gesellschaft dazu. Wichtig ist dabei der Unterton: Man sollte immer miteinander lachen, statt über andere. Dabei kann man durchaus auch als Nicht­-Betroffener Respekt zeigen. Und ich finde jeden Witz gut, der einfach mal die Perspektive wechselt oder vielleicht zum Nachdenken bringt.
Apropos Perspektive: Ich habe inzwischen unterwegs auf Märkten oder so schon viele Hinter(n)­Ansichten gesehen; spannend sind sie deshalb aber trotzdem nicht. Mein Bedarf ist längst gedeckt.

Du hast bereits zwei Bücher geschrieben („Mein Weg“ und „Hallo Welt“). Darin finden sich vor allem Gedichte, aber auch andere kurze Texte über dich, dein Leben und deinen Glauben. Was bedeutet dir das Schreiben und Veröffentlichen dieser Texte (auch im Vergleich mit dem Schreiben und Veröffentlichen von Artikeln in deinem Blog)?

Ich habe einfach schon immer gereimt und allgemein Gedichte gemocht. Sie bringen Dinge auf den Punkt und haben was zu sagen. Lange herum zu erzählen, fällt mir hingegen schwerer. Außerdem kann man Gedichte nicht fix überfliegen, sondern muss sie mehrfach lesen und darüber nachdenken. So bleiben die Inhalte wirklich hängen. Wer nicht die Geduld und die Bereitschaft hat, sich drauf einzulassen, ist offenbar noch nicht bereit, was schade, aber auch okay ist. Längere Texte wie in meinem Blog sind hingegen besser geeignet zum Erklären oder wenn ich mich mal ausführlich aufregen muss. Beide Textarten lassen sich auch verbinden, denn ich schreibe immer aus einem Beweggrund: Ich will etwas in anderen Menschen bewegen und Botschaften in die Welt hinausrufen. Was die Menschen damit machen, ist dann ihre Sache.

Und zum Schluss: Wie schaust du in die Zukunft? Was macht dir Sorgen oder Angst? Was gibt dir Hoffnung und Zuversicht? Welche Pläne hast du selbst? Was wäre dein größter Traum für Kirche und Gesellschaft?

Ich bin einfach gespannt, was wir aus unserer Zukunft machen. Konkrete Pläne habe ich selbst keine, denn wie heißt es schließlich so schön: Der Mensch plant – und Gott lacht! Die richtigen Aufgaben und Lebensab­schnitte kommen zu gegebener Zeit von selbst. Sorgen mach ich mir höchstens, weil so viele Men­schen gar keine Orientierung im Leben mehr haben, und jeder der Beste, Größte, Reichste sein will. Wie kann man nur glauben, dass aus dem Prinzip „Jeder gegen jeden“ etwas Gutes entstehen kann? Wie kann man sich selbst so vernachlässigen, dass das Leben nur noch aus Arbeit besteht? Das Wichtigste ist doch Nächstenliebe und dazu gehört auch die Liebe zu sich selbst. Beides muss in Balance sein. Aber die haben wir in dieser Welt in jeder Hinsicht verloren. Zuversicht gibt mir aber die Gewissheit, dass es einen göttlichen Plan für jeden Einzelnen gibt und in jedem Menschen, jedem Lebewesen ein Funke Gottes steckt und wachsen möchte. Wenn sich zwischen Menschen ehrliche Liebe und Akzeptanz zeigen, dann offenbart er sich. Wir alle sind einzigartig und gleich­ zeitig eben gleich, weil wir dieses Licht der Liebe und Weisheit in uns tragen. Wenn wir das begreifen und in die Welt tragen, kann diese wirklich zu einem besseren Ort werden.
Daran kann die Kirche mitarbeiten, aber noch geht es überall zu sehr um das eigene Ego und darum, erstarrte trennende Systeme aufrechtzuerhalten. Kirche sollte mehr für die Menschen da sein, um glaubwürdig zu sein. Aber nicht nur für die perfekten Christen, die der Norm entsprechen, denn – Überra­schung! – die gibt es nicht. Man muss sich schon auf den bunten Blumenstrauß der Vielfalt einlassen. 

 

Rosalie Renner studiert Kulturwissenschaften an der Fernuniversität Hagen. Sie ist Bloggerin, schreibt Bücher und engagiert sich für Barrierefreiheit und Inklusion (nicht nur) in der Kirche.