Inklusion in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Einige Prinzipien, Gedanken und Ideen

15:20 Min | 37 MB
Autorin: Pia Kuhlmann; Sprecherin: Jonka Freitag
HERRLICH 02|2023, Seite 36-41

Von Pia Kuhlmann  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 36-41  |  6:43 MIN

Einige Prinzipien, Gedanken und Ideen

Hast du schon mal die Grenzen und Schwächen des Satzes „Liebe deinen Nächsten“ am eigenen Leib erlebt? Wurdest du von deinem Nächs­ten ausgegrenzt? Hat dir jemand Hindernisse in den Weg gelegt oder Barrieren nicht entfernt?
Bieten wir in unseren Gemeinden, in unseren Grup­pen, in unserer Kinder­ und Jugendarbeit sichere Orte für alle Menschen? Orte ohne Diskriminierung, ohne Ausgrenzung? Was ist nötig, um ein Ort für alle zu werden? Ein inklusiver Ort?
Ein Blick auf die Kinder­ und Jugendarbeit mit ihren Prinzipien und ihrer rechtlichen Grundlage ist dafür hilfreich, denn in unseren Gemeinden und in unse­ren Angeboten geht es um dieses Arbeitsfeld. Um sichere Orte zu bieten, ist zusätzlich ein Blick auf die Strukturen und Rahmenbedingungen wichtig. Die Menge an Impulsen hierzu kann fast überfordern, aber vielleicht sind als erste Schritte einzelne Ideen umsetzbar und machen es leichter, weitere inklusive Ideen anzupacken.
Alle jungen Menschen brauchen Freiräume, in denen sie sich entsprechend ihrer Bedürfnisse und Interes­sen bewegen und entfalten können. Oftmals erschwe­ren jedoch Barrieren wie Informationen in schwerer Sprache, nicht barrierefreie Häuser oder zu hohe Kosten die Er­füllung dieser Bedürfnisse. Es stellt sich also die Frage:

Was ist nötig für Barrierefreiheit, Niederschwelligkeit und Offenheit?

In der Kinder­ und Jugendarbeit wird Inklusion in einer Reform des Sozialgesetzbuches 8 (Kinder­ und Jugendhilfe) gesetzlich festgeschrieben. In drei Stufen wird bis 2028 die gleichberechtigte Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen gesetzlich verankert. Zuvor waren die Rechte von Kindern mit körperlicher und geistiger Behinderung in anderen Gesetzen geregelt. Die Jugendhilfe war für sie nicht zuständig. Bereits seit Dezember 2022 steht im Sozialge­setzbuch 8, welches die Belange der Jugendarbeit bedenkt, in § 11, (1) SGB VIII:

„Dabei sollen die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Angebote für junge Menschen mit Behinderungen sichergestellt werden.“ (https://www.sozialgesetz­ buch­sgb.de/sgbviii/11.html)

Die (ehrenamtliche) Arbeit, die wir in Gemeinden, im Gemeindejugendwerk (GJW) oder in Vereinen gestalten, fällt unter diesen Paragrafen im Sozialge­setzbuch. Das bedeutet: Auch in unserer Arbeit im Kindergottesdienst, auf Freizeiten, in Jugendgruppen oder bei Schulungen soll die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für Menschen mit Behinderung sicher­ gestellt werden.
Um über Inklusion in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nachzudenken, ist es interessant, die Grundsätze der Kinder­ und Jugendarbeit zu kennen.
Die Arbeit basiert auf den Prinzipien (Richtlinien) der Offenheit für alle, der Freiwilligkeit der Teilnehmen­ den, der Partizipation (Beteiligung) und der Lebensweltorientierung. Durch Teilhabe wird die Selbstbe­stimmung von Kindern und Jugendlichen gestärkt.

Diese Prinzipien richten sich schon immer an alle Kin­der und Jugendlichen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, ihrer Herkunft, ihren finanziellen Mitteln oder ihrer Religionszugehörigkeit.
Angebote für die Zielgruppe junger Menschen sollen sich nach ihren Interessen richten, ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern, Möglichkeiten bieten, als Mitglied einer Gruppe mitzubestimmen, und Freiräume eröffnen.
Diese Erfahrungen sind stärkend in der Entwicklung, denn sie ermöglichen es Kindern und Jugendlichen, Selbstwirksamkeit zu erleben, das eigene Umfeld mitzugestalten, sich für eigene Werte einzusetzen und verhelfen ihnen zu gleichberechtigter Teilhabe und Beteiligung in ihrer Lebenswelt

Inklusion in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Einerseits können wir sagen: Warum sprechen wir überhaupt darüber? Das ist doch selbstverständ­lich. Jede*r ist willkommen! Andererseits: Wie gestalten wir das „Willkommen“­ und „Sicher“­ sein? Was ist mit unseren vorhandenen Kapazitäten möglich und denkbar?
Kinder­ und Jugendarbeit bezieht schon viele Interessen und Ressourcen der jungen Menschen mit ein. Was für ein wertvolles Potenzial! Kinder und Jugendliche erleben Mitbestimmung in vielen unserer Gemeinden. Im besten Fall gestalten sie aktiv das aktuelle Gemeindeleben und ihre eigenen Angebote. Durch viele gute Beziehungen und Betei­ligung in ihren Jugend­ oder Kindergruppen erleben junge Menschen, wie sie vertrauensvoll ernstgenommen werden, in einem geschützten Rahmen Dinge ausprobieren können und mit einbezogen werden. Mitarbeitende erleben dabei, wie sich die Aufmerksamkeit und das Interesse der Teilneh­menden verändern, wenn sie die Arbeit an deren Lebenswelt ausrichten.
Im Gruppenalltag bin ich als Mitarbeiter*in häufig gefordert, schnell auf sich verändernde Situationen einzugehen. Hier einige Beispiele: Die Gruppe ist deutlich kleiner oder größer als geplant, Räum­lichkeiten sind anders als erwartet oder es gibt Personen, die den geplanten Ablauf in der Gruppe stören. Die Reaktionen und Lösungen in diesen Si­tuationen sind Ressourcen, auf die wir als Mitarbei­tende zugreifen können, wenn wir unsere Angebote inklusiver gestalten wollen. Doch trotz dieser bereits vorhandenen Flexibilität und Offenheit gibt es immer noch Zugangsbarrieren, die es erschwe­ren, dass junge Menschen mit Behinderung an den Angeboten teilnehmen können. Diese Barrieren können wir immer mehr abbauen. 

Wie gestalten wir unsere Kinder- und Jugendarbeit noch inklusiver?

 Zunächst geht es um die eigene Haltung und Struk­turen: Hierbei kann der „Inklusions­-Check“ der aej, Diakonie und von Aktion Mensch hilfreich sein, denn er stellt genau dazu Fragen:

  • „Wie offen will ich in der von mir verantworteten Kinder­ und Jugendarbeit tatsächlich sein?“
  • „Kann ich mir vorstellen, dass ganz unterschied­ liche Kinder und Jugendliche in ‚meine‘ Gruppen­ stunde kommen, mit auf ‚meine‘ Freizeit fahren oder ‚mein‘ offenes Angebot besuchen?“
  • „Ist unsere inklusive Haltung ein Gesprächspunkt in unseren Team­ und Vorbereitungstreffen?“

Inklusive Angebote schaffen eine Kultur, welche die Vielfalt menschlichen Lebens als Normalität und Chance sieht. Eine offene Haltung und Wertschät­zung aller Beteiligten, der Mitarbeitenden und der Teilnehmenden, gegenüber anderen Lebenswelten ist bereits ein wichtiger Teil von Inklusion. Wenn wir uns als Team immer wieder reflektieren und austau­schen, können wir uns gemeinsam weiterentwickeln in Richtung mehr Vielfalt und Offenheit. Das bedeutet auch, dass wir uns mit unseren eigenen Vorurteilen und Ängsten auseinandersetzen.
Neben einer inklusiven Haltung des Teams sind auch inklusive Rahmenbedingungen notwendig. Bei unseren Planungen die Teilhabe junger Menschen ohne und mit Einschränkungen als Leitgedanken zu berücksichtigen, ist entscheidend.

  • Welche Voraussetzungen sollten dafür erfüllt werden?
  • Und wer trägt die Verantwortung dafür?

Hilfreich sind dafür konkrete pädagogische Konzepte, welche junge Menschen mit und ohne Behinderung einbeziehen, Teil der Planung werden lassen und ihnen so die Möglichkeit geben mitzubestimmen und mitzugestalten. Diese Konzepte sind nachhaltig, wenn sie sich nach den Interessen, Wünschen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen richten. Hilfreich kann hierfür die Publikation des DBJR „Qualitätsstandards für Kinder- und Jugendbeteiligung“ sein.
Inklusive Kinder­ und Jugendarbeit ist machbar! Es gibt dafür keine vorgefertigten Lösungen, sondern Prozesse, Wege und Engagement, die durch gute Rahmenbedin­gungen unterstützt werden. Zu Beginn ist es häufig aufwendig, da zunächst einige Fragen gestellt werden und einige Herausforderungen zu lösen sind, aber es lohnt sich. 

Folgende Punkte können helfen:

Eltern

Ein sehr wichtiger Bestandteil inklusiver Arbeit, ist die Zusammenarbeit mit den Eltern der Kinder und Jugendlichen. Dies ist für die Kinder­ und Jugendarbeit untypisch und teilweise auch ungewollt. Angebote sind häufig eine „elternfreie Zone“. Für inklusive Angebote brauchen wir unbedingt die Einbeziehung der Eltern. Sie sind häufig die Spezialist*innen für die Bedürfnisse und Anforderungen ihrer Kinder und daher wichtige Kooperationspartner. Wir brauchen aber auch Räume und Zei­ ten ohne Eltern, um die Ziele und Werte der Jugendarbeit eben auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung möglich zu machen. Dafür braucht es gute Mittelwege und eine klare Kommunikation. 

Zugang zu Informationen

Wie erfahren Kinder und Jugendliche mit Behinderung von unseren Angeboten? Wis­sen Eltern, dass es in unserer Gemeinde barrierearme Angebote gibt? Der Besuch von Sondereinrichtungen mit längeren Fahrzeiten führt häufig dazu, dass es wenig Kontakte im eigenen Wohnort gibt. Es ist daher hilfreich, Wege der Öffentlichkeits­arbeit zu finden, um diese jungen Menschen und ihre Eltern zu erreichen: vielleicht durch Kontakte in der eigenen Nachbarschaft oder durch Veröffentlichungen in städtischen Nachrichten. Eine Zugangshürde kann dabei allerdings die Sprache sein. Durch schwere Sprache und/oder Insider­Sprache (z. B. Bibelarbeit, spezielle Namen für den Kindergottesdienst oder die Jugendgruppe) können sich junge Menschen nicht angesprochen oder ausgeschlossen fühlen. Informationen in leichter oder einfacher Sprache ermöglichen es, sich an Angeboten zu beteiligen. 

Qualifizierung und Weiterbildung

Wenn wir an der Haltung der Mitarbeitenden arbeiten oder barrierefreie Räume ermögli­chen, führt das nicht unmittelbar dazu, dass Mitarbeitende sich sicher und fähig in der Arbeit mit Personen mit Behinderung fühlen. Ehrenamtlich und hauptamtlich Engagierte benötigen gute Qualifizierungen und Fortbildungen. Die Jugendleiter*innen­Ausbildung (Juleica/M­Kurs) bietet dafür eine gute Möglichkeit. Es gibt bereits fertige Juleica­ bzw. M­-Kurs­-Bausteine zum Thema Inklusion (siehe www.aej.de/zusammen­geht­doch) oder auch Schulungsangebote für Assistenzausbildungen. Behinderungsspezifisches Wissen kann zum Beispiel durch eine Fortbildung zur Inklusionsfachkraft erworben werden. Durch Qualifizierung und Weiterbildung werden für Mitarbeitende Ängste und Unwissenheit abge­baut und ihnen Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. 

Barrierefreiheit

Soziale, sprachliche, ökonomische und bauliche Barrieren sind Zugangshür­den. Das heißt beispielsweise, Räume und Zugänge auf Stufen und Hürden zu überprüfen, aber auch Angebote mit Freiräumen und Pausen flexibel
zu gestalten. Es gilt auch, individuelle Schutz­ und Rückzugsräume zu schaffen und miteinander im Gespräch zu sein, was gerade von Einzelnen gebraucht wird. Hierfür ist Beteiligung sehr hilfreich, also die Barrierefrei­ heit gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern zu bespre­chen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Dabei ist eine transparente und offene Kommunikation wichtig. 

Kooperation

Aufgrund langjähriger getrennter Systeme der Behindertenhilfe und der Jugendarbeit, gibt es wenig alltägliche Begegnungs-­ und Berührungspunkte von jungen Menschen mit und ohne Behinderung. Sie halten sich in unterschiedlichen Sozialräumen auf. Um diese Trennung aufzubrechen ist es eine gute Möglichkeit, Behindertenhilfeeinrichtun­gen in der Umgebung als Kooperationspartner*innen zu gewinnen. Dies führt häufig zu Win­Win­Situationen, da beide Seiten nun gemeinsame Angebote entwickeln und qualifi­zierte Fachkräfte in Bezug auf behinderungsspezifisches Wissen ebenso wie Fachkräfte der Jugendarbeit dadurch voneinander profitieren können. 

Finanzierung von Assistenzkräften

Kinder und Jugendliche mit Behinderung benötigen teilweise Assistenzkräf­te, um an Angeboten teilnehmen und teilhaben zu können. Damit ist z. B. Gebärdendolmetschung gemeint, pflegerische Hilfeleistungen, Übersetzung in leichte Sprache oder andere Assistenzleistungen. Manche Unterstützung ist möglich durch die Mitarbeitenden, für andere Leistungen benötigt es zusätzli­ches Fachpersonal. Wichtig ist dabei, wie zuvor beschrieben, Absprachen und Klärungen mit den Eltern zu treffen. Leider sind Assistenzleistungen einkom­mensabhängige Eingliederungshilfeleistungen. Das heißt, die Familien werden für entstehende Kosten herangezogen. Ist dies nicht umzusetzen, gibt es Möglichkeiten, z. B. über „Aktion Mensch“ unkompliziert Fördergelder zu beantragen. 

Inklusion ist ein Menschenrecht

Es ist kein festgelegtes Ergebnis und ist zu keinem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen. Unsere Gemeinden können zugängliche und sichere Orte sein für Menschen mit völlig vielfaltigen Bedürfnissen. Diese Prozesse werden nie fertig sein, sondern sich immer wieder neu weiterentwickeln. Uns darauf immer wieder einzulassen ist gewinnbringend, schön und folgenreicher Anteil von Nächstenliebe.

 


Pia Kuhlmann
ist Projektleitung des Projektes „Zusammen? Geht doch! – Inklusion in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit“ bei der Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend in Deutschland e.V.