„Ein Geschenk, das nur selten ausgepackt wird!“

Ein Interview

Von Volkmar Hamp mit David Neufeld  |  Erschienen in HERRLICH 02|2023, Seiten 30-33  |  5:40 MIN

 

„Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder willkommen ist!“ lautet der Slogan des Neufeld Verlages – das ist ein Statement! Wie seid ihr denn darauf gekommen?

Dieses Motto haben wir erst zu unserem zehn­ jährigen Jubiläum als Verlag formuliert. Beim Fragen, was uns eigentlich ausmacht, was uns besonders am Herzen liegt, kamen wir am Ende auf diese Formulierung.
Mit diesem Satz bringen wir ja unsere beiden großen Programmbereiche im Verlag zusam­men – unseren Wunsch, dass Menschen erle­ben: Bei Gott bin ich willkommen! Und unsere
Überzeugung, dass Menschen mit Behinde­rung uns etwas zu sagen und zu geben haben.

Und was hat das mit euch persönlich zu tun, wie kam es überhaupt zu diesem Schwer­punkt?

Unser Leben als Familie hat damit eine ganze Menge zu tun – wir haben zwei Söhne mit Down­Syndrom adoptiert, einer von ihnen ist auch im Autismus-­Spektrum unterwegs.
Es hat aber eine ganze Weile gedauert, bis ich geahnt habe: Da hat uns Gott nicht nur als Familie, sondern offensichtlich auch als Verlag etwas Besonderes anvertraut. Meine Frau hat damals schon zu mir gesagt: „Unser Alex leitet den Verlag doch längst, nur hast du selbst es bisher noch nicht gemerkt!“ (grinst). 

„Menschen mit Behinderung bereichern Ihr Leben“ steht auf eurer Website und in euren Prospekten. Wie erlebt ihr das in eurem Alltag?

Der ist natürlich nicht immer einfach, aber es gibt eben auch ganz besondere Momente.
Als unser Samuel neulich seinen 17. Geburts­tag feierte, hatten wir so ein Erlebnis: Auch wenn er keine speziellen Wünsche geäußert hat, mit der Auswahl des Geburtstagskuchens hat es geklappt. Und er hat sich spürbar schon ein paar Tage vorher drauf gefreut.
Das ist nicht selbstverständlich, denn Samuel spricht eher wenig und oft ist uns nicht klar, was in ihm vorgeht.
An seinem Festtag selbst hat Samuel dann stolz sein schönstes Hemd angezogen und ganz bewusst gefeiert. Er hat glücklich seine Geschenke ausgepackt und fröhlich dabei ge­strahlt. Wie jedes Jahr, hat er einen Erdbeerkuchen (natürlich mit Sprühsahne) mit in die Schule genommen. Als meine Frau ihn dann in die Schule brachte, konnte sie beobachten, wie er stolz den Klassenraum betrat, die Arme in die Höhe reckte und laut rief.
Keine Frage, Samuel ließ sich an diesem Tag feiern (er war allerdings der Meinung, er sei 19 geworden). Als meine Frau dann von der Schule nach Hause kam, schlug sie ihr Losungsbuch auf. Und wie lautete der Text für Samuels Geburtstag?
„Ich pries die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne, als zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Das bleibt ihm bei seinem Mühen sein Leben lang, das Gott ihm gibt unter der Sonne.“ (Prediger 8,15) Wir hatten den Eindruck: Diese Worte passen ganz wunderbar zu unserem Samuel.
Und durch seine Art, das Leben Tag für Tag ziemlich unbeschwert zu genießen, inspiriert er uns, aber auch viele andere Menschen um ihn herum. Wer von uns ist an seinem letzten Geburtstag in die Schule oder an den Arbeits­platz gekommen und hat sich erst mal kräftig feiern lassen?!

Das klingt tatsächlich außergewöhnlich. Wie prägt diese Überzeugung eure Arbeit, euer Verlagsprogramm?

Na ja, weil wir selbst nicht nur ganz schön ge­fordert sind, sondern eben auch immer wieder erleben, dass unsere Jungs tiefe Lebensweis­heit so ganz nebenbei durchschimmern lassen, liegt es uns am Herzen, unsere Gesellschaft darauf hinzuweisen: Menschen mit Behinderung haben nicht nur ein Recht, dabei zu sein, sondern sie haben uns oft auch wichtige Impulse zu geben.

  • Sie erinnern uns daran, dass jeder Mensch einzigartig ist.
  • Sie zeigen uns, dass der Wert eines Menschen nichts mit seiner Leistungsfähigkeit zu tun hat.
  • Sie bremsen uns immer wieder aus und halten uns vor Augen, was im Leben wesentlich ist.
  • Sie sind oft wahre Lebenskünstler, wenn es darum geht, im Augenblick zu leben.
  • Sie lassen uns erkennen, dass das Leben erfüllt sein kann – auch wenn es manchmal anders kommt als geplant.
  • Sie helfen uns, mit dem Herzen zu sehen: anderen Menschen unvoreingenommen und echt zu begegnen.
  • Sie beschenken uns mit jeder Menge Freude und Liebe.

    Davon erzählen wir leidenschaftlich gerne in Büchern, manchmal auch nur mit Fotos und ganz ohne Worte, wie zum Beispiel in unserem Wandkalender A little extra.

    Stichwort Inklusion – arbeiten im Verlag ei­gentlich auch Menschen mit Behinderungen?

    Leider nicht – auch wenn unser Alex oft davon redet, dass er gerne hier im Verlag mitarbeiten würde. Ich fürchte, am Ende wäre es ihm viel zu langweilig, weil er doch gerne Menschen um sich hat. Und wir sind ja ein sehr kleines Team – im Moment arbeitet außer mir selbst nur noch ein angestellter Lektor in Teilzeit und von zu Hause aus mit...

    Das habe ich mir irgendwie größer vorgestellt...

    Na ja, wir sind ganz happy damit, dass wir flexibel und wendig sind und dass unser Ap­parat überschaubar ist. Und als Unternehmen groß zu sein, ist uns nicht wichtig. Wir wollen vor allem großartige Bücher machen, die die Menschen bewegen.
    Aber klar, wir beschäftigen uns selbst immer wieder mit dieser Frage. Und vor einigen Jah­ren waren wir intensiv im Gespräch mit einer Werkstatt, in der Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen arbeiten. Wir hatten die Idee, ob diese Werkstatt nicht unsere Logistik übernehmen könnte. Nach intensiven Monaten mussten wir am Ende aber leider feststellen, dass es einfach nicht geklappt hätte – ange­fangen von der Bestellannahme über die enor­men Leistungsanforderungen, was z. B. das Tempo angeht, bis hin zu den nackten Kosten, die natürlich auch ein wichtiger Faktor sind. Immerhin, manchmal können wir z. B. einzelne Druckaufträge an die örtliche Lebenshilfe ver­ geben. Ich hätte große Freude, mit Menschen mit Behinderung zusammenzuarbeiten. Aber zumindest aktuell ist es einfach nicht der Fall. 

     

    Und wie nehmt ihr das Thema Inklusion im Kontext von Gemeinden und Kirchen wahr?

    Ich finde, da ist noch richtig viel Luft nach oben. Man muss einfach sagen, dass auch in unserer Gesellschaft Menschen mit Behin­derung keine sehr starke Lobby haben. In Deutschland gibt es über zehn Millionen Men­schen mit Behinderung, aber andere Themen nehmen deutlich mehr Raum ein.
    Mein Eindruck ist, dass viele Gemeinden mir sofort zustimmen würden, dass Menschen mit Handicap auch dazugehören und ihren Platz in unseren Kirchen finden sollten. Aber ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst, dass damit auch ein unglaublicher Reichtum verbunden ist. Dass sie uns etwas zu sagen haben.
    Wenn ich mit unserem Alexander den Lobpreis in unserer Gemeinde leite, dann bewirken sein Strahlen am Schlagzeug (und er ist ein wirklich guter Drummer) und die Tatsache, dass er von ganzem Herzen im Hier und Jetzt lebt, dass es auch der Gemeinde viel leichter fällt, sich bewusst Gott zuzuwenden – so wie ich bin, mit meinen Grenzen und meiner Ergänzungs­bedürftigkeit. Auf einmal ist alles viel lockerer, lebendiger, echter. Und das ist ein Geschenk für die Kirche, das nur selten ausgepackt wird. Wenn Alex da vorne offenbar lebt, dass er bei Gott willkommen ist, so wie er ist – dann ist das eine kraftvolle Einladung an mich, das genauso zu erleben.
    Auch deswegen empfinden wir: Wir haben noch viel zu tun!

    Nochmal zurück zu eurer persönlichen Situation: Du hast es schon angedeutet, der Alltag mit euren zwei Söhnen mit Behinderung ist vermutlich nicht immer einfach. Wo liegen denn eure Herausforderungen?

    Das ist natürlich vielschichtig. Herausfordernd finde ich zum Beispiel, unseren Alexander dabei zu begleiten, seinen Weg zu finden. Als junger Kerl hat er sich nach der Badewanne manches Mal nackt vor dem Spiegel selbst bewundert – das sah so aus, als ob er Gott zu diesem Meisterstück beglückwünscht. Und diese Selbstannahme ist einfach der Hammer und ein Geschenk für die Welt!
    Jetzt ist er 22 und will sich einerseits stärker von uns Eltern lösen, um seinen eigenen Weg zu gehen. Das ist ja ganz richtig und wichtig. Aber zugleich merkt er eben, dass er manches gar nicht so gut alleine schafft, auf Unterstützung angewiesen ist. Und wir fragen uns, wie wir ihn in seinen Wünschen ernst nehmen und begleiten können, wie wir seine eigenen Ideen fördern können – während wir doch weiterhin Verantwortung tragen. Das ist eine ziemliche Spannung. Als Ehepaar fehlen uns in den letzten Jahren ganz eindeutig Auszeiten, Unterstützung im Alltag, dass wir mal einen Abend oder ein paar Tage alleine weg können. Erholsamer Urlaub. Wir arbeiten dran...
    Wir fühlen uns also zugleich beschenkt als auch gefordert. Und manchmal liegt beides sogar recht nah beieinander.

    Danke, David, dass du uns mit hinein genom­men hast in euren Herzschlag!  

     

    David Neufeld ist Leiter des Neufeld Verlags (www.neufeld-verlag.de) und Vater von zwei Adoptivsöhnen mit Trisomie 21.