„Sie werden lachen, die Bibel!“

Wissenswertes zum Buch der Bücher

Von Volkmar Hamp  |  Erschienen in HERRLICH 02|2024, Seiten 32-39  |  11:34 MIN   

 „Sie werden lachen, die Bibel!“ – Das soll der Schriftsteller Bertolt Brecht (1898-1956) geantwortet haben, als er kurz nach dem sensationellen Erfolg seiner „Dreigroschenoper” gefragt wurde, welches Buch ihm in seinem Leben den größten Eindruck gemacht habe.

Die Bibel ist auch mein Lieblingsbuch. Sie begleitet mich seit meiner Kindheit. Noch immer steht die bekannte Kinderbibel des niederländischen Schriftstellers Anne de Vries (1904-1964) in meinem Bücherregal – in einer Ausgabe aus meinem Geburtsjahr 1964. Darin die Widmung meiner Tante und meines Onkels an meine Eltern: „Täglich viel Freude mit Euren Kindern beim Lesen in diesem Buch.“

Ob wir täglich darin gelesen haben? Nein. Aber in allen Phasen meines Lebens war mir die Bibel ein zuverlässiger Begleiter. Ich habe immer wieder Neues, Überraschendes, Hilfreiches, Prägendes, Verstörendes und Tröstendes in ihr gefunden.

Die Bibel ist nach wie vor das meistgelesene und meistverkaufte Buch der Welt.

Auf Platz 2 liegt die sog. „Mao-Bibel“, die „Worte des Vorsitzenden“ der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Tse-Tung (1893-1976), auf Platz 3 der Koran, das heilige Buch des Islam. Um die gesamte Bibel zu lesen, braucht man ungefähr 500 Stunden. Sie enthält 1.189 Kapitel, 31.173 Verse und mehr als drei Millionen Buchstaben. Wenn man ein Kapitel der Bibel pro Tag liest, ist man nach drei Jahren und 94 Tagen damit durch (vgl. Lamp / Meurer 14).

Die Bibel ist wohl auch das mächtigste Buch der Weltgeschichte (vgl. Großbongardt / Saltzwedel). Für 2,3 Milliarden Christen ist sie „Heilige Schrift“ und „Buch der Bücher“. 15 Millionen Juden berufen sich auf ihren ersten Teil – das „Alte Testament“ der Christen – als „Hebräische Bibel“ oder „Tanach“ (s. u.). 1,6 Milliarden Muslime verstehen die Bibel als Offenbarungszeugnis Allahs, das freilich in ihrer Sicht von Juden und Christen „verfälscht“ worden ist.

Die Bibel ist ein Buch. Und genau das bedeutet auch der Name „Bibel“ (von gr. biblíon = „Papyrus-Rolle“). Seit dem Kirchenvater Johannes Chrysostomos (ca. 349-407 n. Chr.) wird dieses Buch so genannt, genauer gesagt: tá biblía („die Bücher“). Denn die Bibel ist nicht ein Buch, sondern eine kleine Bibliothek. Der Plural tá biblía macht deutlich, was das deutsche Wort „Bibel“ (im Singular) so nicht mehr zeigt: Die Bibel ist ein „Buch der Bücher“, eine Zusammenstellung von ursprünglich unabhängig voneinander entstandenen Schriften, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten von einer ganzen Reihe überwiegend unbekannter Autoren – vermutlich ausschließlich Männer! – verfasst wurden.

„Buch der Bücher“ meint freilich noch mehr. Für Christen jedenfalls ist die Bibel das Buch schlechthin, das wichtigste Buch der Weltgeschichte, das Ur-Dokument ihres Glaubens und die Richtschnur für ihr Leben. Sie ist die Zusammenstellung der für den christlichen Glauben maßgebenden Schriften. Doch auch wenn man diese Hochschätzung der Bibel nicht teilt, lohnt sich die nähere Beschäftigung mit diesem einzigartigen Buch. Es ist Teil unseres kulturellen Erbes. Die Welt von heute versteht nur, wer weiß, was die Bibel zu ihrem Werden beigetragen hat. Und vermutlich wird das auch für die Welt von morgen gelten, obwohl wir heute natürlich noch nicht wissen können, ob und in welcher Weise die Bibel auch die zukünftige Entwicklung der Welt prägen wird.

 

Die Sprachen der Bibel

Die Autoren der in der Bibel versammelten Schriften haben ihre Bücher in drei verschiedenen Sprachen geschrieben: Hebräisch, Aramäisch und Griechisch.

Hebräisch ist die Sprache des Alten Testaments. Bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezar (587 v. Chr.) war Hebräisch die Umgangs- und Schriftsprache der jüdischen Bevölkerung Palästinas (vgl. 2 Kön 18,26; Jes 36,11-13).

Danach verdrängte das im Nordosten Kanaans gesprochene Aramäisch, das wie Hebräisch und Arabisch ein Zweig der semitischen Sprachfamilie ist, nach und nach das Hebräische als Umgangssprache. Es wurde eine der offiziellen Reichssprachen des mehrsprachigen Perserreiches der Achämeniden (6.-4. Jh. v. Chr.). Schließlich sprach man Hebräisch nur noch im Gottesdienst. Aufgrund dieser Entwicklung sind einige Passagen der Bücher Daniel und Esra (Dan 2,4 – 7,28; Esra 4,6 – 6,18; 7,12-26) in aramäischer Sprache verfasst. Aramäisch war auch die Muttersprache Jesu, wie u. a. seine Anrede Gottes als Abba (aramäisch für „Vater“) zeigt (vgl. Mt 26,39; Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6).

Die Sprache des Neuen Testaments ist Griechisch, das Koine-Griechische (von griech. koinè diálektos = „allgemeiner Dialekt“), jene griechische „Verkehrssprache“, die sich während der mehrere Jahre dauernden Feldzüge Alexanders des Großen (356-323 v. Chr.) aus verschiedenen älteren griechischen Dialekten (Attisch, Dorisch, Ionisch, Äolisch) bildete.

 

Der Text der Bibel

Geschrieben wurden die Bücher der Bibel zunächst auf Papyrus oder Pergament. Die relativ günstigen Papyrusblätter fertigte man aus Pflanzenfasern. Das sehr teure Pergament wurde aus Tierhäuten, also aus Leder, hergestellt. Die einzelnen Papyrus- oder Pergamentblätter fügte man zu langen Streifen zusammen, die nach dem Beschreiben zusammengerollt werden konnten, um sie zu schützen. Besonders wertvolle Schriftrollen wurden in Tonkrügen aufbewahrt.

Da sich die Rollenform für umfangreichere Schriften als unpraktisch erwies, ging man irgendwann dazu über, die einzelnen Papyrus- oder Pergamentblätter beidseitig zu beschreiben und erst zu dünnen Heften, dann zu dicken Büchern, sog. Kodizes (lat. codex / codices), zusammenzufügen. Diese Kodizes wurden durch Einbände aus Leder oder Holz geschützt. In den Klöstern des Mittelalters brauchte man kleine Hämmerchen, um die Schließen „aufzuschlagen“, die die beiden Buchdeckel dieser Kodizes zusammenhielten. Daher sagen wir heute noch, dass wir die Bibel (oder ein anderes Buch) „aufschlagen“, um darin zu lesen.

Von keinem der biblischen Bücher ist ein „Autograph“ erhalten, also die ursprüngliche, vom Autor (oder seinem Schreiber) mit eigener Hand geschriebene „Erstausgabe“. Die Handschriften, auf denen unsere Bibelausgaben beruhen, sind alle bereits Abschriften von Abschriften von Abschriften der biblischen Bücher.

Die ältesten Handschriften mit Texten aus dem Alten Testament stammen aus den Höhlen von Qumran. Die wichtigsten sind die Jesaja-Handschrift aus Höhle 1 (1 Q Is), der Habakuk-Kommentar aus Höhle 1 (1 Qp Hab) und die Psalmenrolle aus Höhle 11 (11 Q Ps). Die älteste vollständig erhaltene Handschrift der Hebräischen Bibel ist der Codex Leningradensis (heute Codex Firkowitsch oder Petropolitanus) aus dem Jahr 1008 (vgl. Fischer). Das älteste Papyrusfragment eines neutestamentlichen Textes, das wir besitzen, ist der handtellergroße Schnipsel eines Bibelkodexes aus dem 2. Jh. n. Chr. (um 130) mit einem Text aus dem Johannesevangelium. Vollständige Pergamenthandschriften neutestamentlicher Schriften gibt es aus dem 4. Jahrhundert.

Etwa 2.500 Handschriften des griechischen Neuen Testaments sind erhalten geblieben, davon nur 50 mit dem kompletten Text. Die anderen enthalten jeweils nur Teile des Neuen Testaments: Evangelien, Paulusbriefe oder die Apostelgeschichte. Die Reihenfolge der biblischen Bücher in diesen Handschriften entspricht nicht immer unserer heutigen Anordnung, aber immer stehen die Evangelien am Anfang.

Neben den Handschriften gibt es noch zwei weitere wichtige Zeugen für den Text der Bibel: die biblischen Zitate in den Briefen und Büchern der altchristlichen Schriftsteller und die frühen Bibelübersetzungen. Hier ist vor allem die Septuaginta zu nennen, die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel, dann die Vetus Latina, eine altlateinische Übersetzung aus dem 3. Jh., und schließlich die Vulgata, die lateinische Übersetzung des Hieronymus (347-419/420). Frühe Übersetzungen (ab dem 3./4. Jh.) gibt es auch ins Gotische, Syrische, Koptische, Armenische und Georgische. Ab dem Mittelalter wurde die Bibel dann nach und nach in alle europäischen Sprachen übersetzt.

Bis zur Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert wurden alle Bibelausgaben von Hand geschrieben, ein mühsames Geschäft und ein fehleranfälliges Verfahren! Beim Schreiben nach Diktat konnte es zu Hörfehlern kommen, beim Abschreiben von einer Vorlage zu Sehfehlern. Auch absichtliche Korrekturen wurden hin und wieder vorgenommen, z. B. grammatikalische oder stilistische Veränderungen und inhaltliche Verdeutlichungen.

Trotzdem gilt die Bibel als das bestbezeugte und am besten überlieferte Buch der Antike. Das liegt zum einen an der Fülle der erhaltenen Handschriften, zum anderen aber auch daran, dass die biblischen Schriften „heilige Schriften“ waren, deren Überlieferung man im Allgemeinen mit großer Sorgfalt und größtem Respekt besorgte. So mussten jüdische Tora-Handschriften neu geschrieben werden, wenn man bemerkte, dass sich beim Abschreiben ein Fehler eingeschlichen hatte. Und auch die Bibelkopisten in den Skriptorien der mittelalterlichen Klöster gingen ihrer Arbeit in aller Regel mit heiligem Ernst und großer Sorgfalt nach.

Aufgrund der handschriftlichen Überlieferung der Bibel (s. o.) gibt es innerhalb des überlieferten Textes viele Varianten. Deshalb bieten wissenschaftliche Ausgaben der Hebräischen Bibel oder des Neuen Testaments einen kritischen Apparat, in dem die wichtigsten Varianten aufgeführt sind. Mit Hilfe dieses Apparats versuchen Fachleute, den sog. „Urtext“ der Bibel zu rekonstruieren, der dann die Grundlage für Übersetzungen, Kommentare und andere Interpretationen ist. Manche Unterschiede in modernen Bibelübersetzungen sind darauf zurückzuführen, dass die Übersetzer und Übersetzerinnen dabei verschiedene, miteinander konkurrierende Lesarten bevorzugen.

Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (ca. 1400-1468) revolutionierte auch die Bibelherstellung. Zunächst wurden nur lateinische Bibeln gedruckt (etwa 100 verschiedene Drucke bis 1500). 1514 erschien dann auch die erste Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, 1515/16 die zweite, herausgegeben von Erasmus von Rotterdam (ca. 1466-1536). Nach deren 2. Aufl. von 1519 – einer lateinisch-griechischen Ausgabe – übersetzte Martin Luther (1483-1546) auf der Wartburg das Neue Testament ins Deutsche (1522). Einige Jahre später (1534) folgte die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen.

Im 19. Jahrhundert begannen eigens zu diesem Zweck gegründete Bibel- und Missionsgesellschaften, die Bibel in alle Weltsprachen zu übersetzen. Mittlerweile ist sie in mehr als 1.500 Sprachen verfügbar, oft in verschiedenen Varianten. Auch deutsche Übersetzungen gibt es einige (vgl. dazu den Beitrag von Jannik Panter in dieser HERRLICH-Ausgabe).

 

Die Einteilung der Bibel in Kapitel und Verse

Die heute übliche und weitgehend einheitliche Einteilung der Bibelbücher in Kapitel wurde erst im 13. Jahrhundert (1205) von Stephen Langton (ca. 1150-1228), dem Kanzler der Pariser Universität und späteren Erzbischof von Canterbury, in die Vulgata, die lateinische Übersetzung der Bibel, eingeführt.

Die Einteilung in Verse erfolgte fast 350 Jahre später durch den Pariser Buchdrucker Robert Estienne (ca. 1499-1559). Er führte sie 1551 in seiner Ausgabe des griechischen Neuen Testaments und 1555 in seiner Ausgabe der lateinischen Vulgata ein. Schon bald fand sich diese Einteilung auch in der Lutherbibel, ab 1569 in der Heidelberger und ab 1586 in der

Wittenberger Ausgabe, sowie in der Zürcher Übersetzung (seit 1589). Diese Innovation setzte sich also schnell durch. Sie erleichterte Lesern und Leserinnen der Bibel die Orientierung in ihren Büchern.

Gleiches gilt für die noch später hinzugefügten Zwischenüberschriften, die ebenfalls nicht im hebräischen bzw. griechischen Text der Bibel enthalten sind.

Will man die von den Autoren der Bibel beabsichtigte Gliederung ihrer Bücher verstehen, muss man aber auch auf entsprechende Signale im Text selbst achten, die die Makrostruktur der einzelnen Bücher kenntlich machen.

 

Der Aufbau der Bibel

Die Bibel besteht aus zwei Teilen: aus den 39 Schriften des Alten Testaments und den 27 Schriften des Neuen Testaments. Hinzu kommen die sog. Apokryphen.

Das deutsche Wort „Testament“, das in unserem Sprachgebrauch vor allem mit dem Themenkreis „Vermächtnis, Hinterlassenschaft, Erbe“ verknüpft ist, kommt vom lateinischen testamentum („rechtsverbindliche Verfügung“). Im christlichen Kontext bezeichnet es den von Gott verfügten Bund (hebr. berīt, griech. diathéke), den zunächst das Volk Israel und dann das neue Gottesvolk, die christliche Gemeinde, annahm (vgl. Jer 31,31-34). In diesem Sinn wird der Begriff auch in der christlichen Abendmahlsliturgie gebraucht (1 Kor 11,25: „Dieser Kelch ist der neue Bund – Luther: das neue Testament – in meinem Blut“). Mit der Kanonbildung (s. u.) wurde er dann auf die beiden Teile der christlichen Bibel übertragen.

Das ist nicht unproblematisch, wenn damit eine Wertung verbunden wird. Durch die Bezeichnungen „Altes Testament“ und „Neues Testament“ könnte der Eindruck entstehen – und ist in der Vergangenheit auch häufig erweckt worden –, der Alte Bund sei durch den Neuen Bund überholt und abgelöst worden. Das aber wäre ein fatales Missverständnis! Der Neue Bund in Jesus Christus ist nach christlichem Verständnis nicht die Ablösung, sondern die Erfüllung des Alten Bundes. Deshalb gehören „Alter Bund“ und „Neuer Bund“, „Altes Testament“ und „Neues Testament“ zusammen. Sie sind wie die beiden Brennpunkte einer Ellipse: „Erst im Licht des AT wird das NT überhaupt verständlich. Und umgekehrt wirft das NT ein entscheidendes Licht des Verstehens auf das AT.“ (Lamp / Meurer 20)

„Altes Testament“ und „Neues Testament“ sind also komplementäre Begriffe. Sie drücken keine Vor- und Nachordnung, keine Über- und Unterordnung aus. Das gilt auch für die in den letzten Jahren beliebt gewordenen, aber auch schon in der frühen Kirche gebräuchlichen Bezeichnungen „Erstes Testament“ und „Zweites Testament“. Wertschätzung gegenüber dem Judentum können Christen dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie die Heilige Schrift des Judentums – das „Alte“ oder „Erste Testament“ der Christen – mit ihrem jüdischen Namen Tanach benennen (vgl. Liss) oder sie als Hebräische Bibel bezeichnen.

Mit der aus Altem und Neuem Testament bestehenden christlichen Bibel, entsteht etwas Neues, ein neuer Sinnzusammenhang. „Erst mit der Einfügung der als Einzelschriften entstandenen frühchristlichen Schriften in den Kanon werden diese zu neutestamentlichen Schriften, denen alttestamentliche Schriften gegenüberstehen, mit denen sie gemeinsam gelesen werden wollen. Der Kanon ist eine Leseanweisung und verändert damit das Sinnpotential der in ihn eingefügten Schriften.“ (Alkier 14f.) So wird die Bibel – als Ur-Dokument des christlichen Glaubens – zur Grundlage des kirchlichen Handelns und der kirchlichen Verkündigung. Bibel und Kirche, das gehört einfach zusammen! Ohne Kirche keine Bibel. Ohne Bibel keine Kirche!

 

Der Kanon der Bibel

Die Schriften der Bibel wurden zunächst unabhängig voneinander überliefert und gelesen. Erst nach und nach hat man manche von ihnen zu kleinen Sammlungen zusammengefasst (z. B. die Paulusbriefe). Die Kanonisierung der Bibel an sich begann allerdings erst im 2. Jh. n. Chr. und war erst in der Mitte des 4. Jh. n. Chr. einigermaßen abgeschlossen.

Unter einem Kanon (griech. kanón = „Rohr[stab], Stange, Messstab, Richtschnur“, lat. canon = „Maßstab, festgesetzte Ordnung“) versteht man in der Religionswissenschaft die verbindliche Zusammenstellung der grundlegenden Schriften einer Religion. Paulus gebraucht das Wort, wenn er in Gal 6,16 vom „Maßstab des Glaubens“ spricht. Im 2. Jh. n. Chr. wird das christliche Bekenntnis manchmal „Kanon der Wahrheit“ oder „Kanon des Glaubens“ genannt.

In seinem Traktat Contra Apionem („Gegen Apion“) gibt der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37-100 n. Chr.) gegen Ende des 1. Jh. ein dreiteiliges Verzeichnis der jüdischen heiligen Schriften wieder (Contra Apionem I, 39-41). Darin zählt er 22 Texte auf, die als „göttlich“ angesehen werden:

Die Tora: 
Die fünf Bücher Moses.

Die Propheten:
Darunter Josua, Richter, Samuel, Könige, Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Buch der zwölf Propheten (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi).

Die Schriften:
Psalmen, Hiob, Sprüche, die Schriftrollen (Ruth, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Esther), Daniel, Esra und Nehemia, sowie die Chronikbücher.

Nach den Anfangsbuchstaben ihrer Teile – T = Tora (Weisung, Gesetz), N = Nebiim (Propheten) und K = Ketubim (Schriften) – heißt diese Hebräische Bibel im Judentum mit einem Kunstwort TNK (k als ch ausgesprochen), vokalisiert Tanach oder Tenach (dazu Liss).Das biblische Hebräisch kennt keine Vokale. Nur die Konsonanten eines Wortes werden geschrieben. Die Vokalisierung (und damit die Aussprache der Wörter) muss aus dem Zusammenhang erschlossen werden. Erst im 5. Jahrhundert haben jüdische Gelehrte durch ein ausgeklügeltes Punktations- und Akzentsystem (die Masora) die biblischen Texte vokalisiert und damit auch ihren Sinn festgeschrieben. Den so entstandenen Text nennt man den Masoretischen Text. Er liegt den heutigen Textausgaben und Übersetzungen zugrunde.

In der christlichen Bibel weichen Reihenfolge und Zuordnung der alttestamentlichen Bücher von der Hebräischen Bibel, dem Tanach, ab. Zwar gibt es auch hier eine Dreiteilung, aber diese erfolgt in:

Die Geschichtsbücher: 
Die fünf Bücher Mose (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium), Josua, Richter, Ruth, jeweils zwei Bücher Samuel, Könige und Chronik, Esra, Nehemia, Esther.

Die Lehrbücher und Psalmen:
Hiob (Ijob), die Psalmen, sowie die König Salomo zugeschriebenen Bücher Sprüche (Proverbia), Prediger (Kohelet) und Hohelied (Canticum Canticorum).

Die Prophetenbücher:
Die „großen“ Propheten Jesaja, Jeremia, Klagelieder Jeremias, Hesekiel (Ezechiel) und Daniel, sowie die in der Hebräischen Bibel im Zwölfprophetenbuch (Dodekapropheton) zusammengefassten „kleinen“ Propheten Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi.

 

Diese Dreiteilung spiegelt sich dann auch im Aufbau des Neuen Testaments wieder:

Die Geschichtsbücher:
Die vier Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) und die Apostelgeschichte.

Die Briefe:
Römer, 1 und 2 Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, 1 und 2 Thessalonicher, 1 und 2 Timotheus, Titus, Philemon, 1 und 2 Petrus, 1 bis 3 Johannes, Hebräer, Jakobus, Judas (so die Reihenfolge der Briefe in evangelischen Bibeln. Katholische Bibeln bieten nach dem Brief an Philemon folgende Reihenfolge: Hebräer, Jakobus, 1 und 2 Petrus, 1 bis 3 Johannes, Judas).

Das prophetische Buch:
Die Offenbarung (Apokalypse) des Johannes.

 

Der Inhalt der Bibel

„Die Texte der Bibel werden durch eine große Erzählung zusammengehalten, die vom Anfang bis zum Ende dieser Welt ausgespannt wird.“ (Alkier 51.) Diese Erzählung beginnt mit dem Schöpfungshandeln Gottes am Anfang der Zeit (Gen 1 und 2) und endet mit der Vollendung bzw. Neuschöpfung der Welt am Ende der Zeiten (Offb 21 und 22).

Dabei spannt sich der Bogen der Erzählung im Ersten Testament von der die ganze Welt in den Blick nehmenden Urgeschichte (Gen 1-11) über die Erzählungen von den Stammvätern und Stammmüttern des späteren Volkes Israel (Gen 12-50) bis zur Geschichte dieses „auserwählten Volkes“ selbst (ab dem Buch Exodus).

Die Geschichte des Volkes Israel im engeren Sinne nimmt ihren Anfang im Auszug aus Ägypten (Exodus), in der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft. Anschließend führt sie von den charismatischen Anführern und Anführerinnen der Frühzeit, den sogenannten Richtern und Richterinnen (ca. 1200-1000 v. Chr.), über die ersten Könige des Volkes Israel – Saul, David und Salomo (ca. 1000-926 v. Chr.) – und die Reichsteilung (926 v. Chr.) bis zum Untergang der daraus entstandenen Königreiche Israel und Juda im 8. bzw. 6. Jh. v. Chr. (722 bzw. 586 v. Chr.). Es folgen die Zeiten der babylonischen (586-538 v. Chr.), persischen (538-333 v. Chr. ), hellenistischen (333-64 v. Chr.) und römischen Vorherrschaft über Palästina (ab 64 v. Chr.).

Für die ersten Christen ist mit dem Kommen Jesu, seinem Leiden und Sterben und seiner Auferstehung, der Höhepunkt dieses erzählerischen Bogens, die „Mitte der Zeit“, erreicht, wie der Neutestamentler Hans Conzelmann (1915-1989) dies 1952 in seiner Habilitationsschrift über die Theologie des Lukas formuliert hat (vgl. Conzelmann). Seitdem warten sie auf die „Vollendung“, die Wiederkunft Christi, den endgültigen Anbruch der Gottesherrschaft, den neuen Himmel und die neue Erde, die ihnen verheißen sind (Offb 21 und 22).

In diesen großen erzählerischen Zusammenhang sind nun all die kleinen biblischen Geschichten eingefügt, die das Lesen der Bibel so spannend und bereichernd machen. In ihn fügen sich auch all die prophetischen, poetischen, philosophischen und belehrenden Texte ein, die Gottes Beziehung zu seiner Schöpfung und Gottes Geschichte mit den Menschen und mit seinem Volk deuten und uns einladen, uns selbst als Teil dieser Beziehung und Geschichte zu verstehen (vgl. Simm).

 

Die Bibel: Wort Gottes und Heilige Schrift!?

Weil die Bibel im kirchlichen Kontext eine zentrale Rolle spielt, müssen wir uns immer wieder Rechenschaft darüber ablegen, welche Rolle das eigentlich ist und wie wir die Bibel lesen und verstehen wollen. Die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dieser Frage beschäftigt ist die biblische oder theologische Hermeneutik (vgl. Körtner und die Artikel von Maximilian Zimmermann und Carl Heng Thay Buschmann in dieser HERRLICH-Ausgabe).

Grundsätzlich sind ja zwei verschiedene Wege der Gotteserkenntnis oder religiösen Erfahrung denkbar. Zum einen der Weg vom Menschen zu Gott (der Weg der Weisheit, Philosophie oder „Natürlichen Religion“). Zum anderen der Weg von Gott zu den Menschen (der Weg der Offenbarung). Dementsprechend kann man alle Religionen idealtypisch in „Weisheitsreligionen“ und „Offenbarungsreligionen“ einteilen (vgl. Glasenapp).

Das Christentum ist – wie Judentum und Islam – eine Offenbarungsreligion. Und wie der Name schon sagt, behauptet es, dass die zentrale, alles entscheidende Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus stattgefunden hat. Der Hebräerbrief bringt das so auf den Punkt:

„Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe und ist so viel höher geworden als die Engel, wie der Name, den er ererbt hat, höher ist als ihr Name.“ (Hebräer 1,1-4)

Das heißt: Wer wissen will, wie Gott ist, muss auf Jesus Christus schauen. Wer danach fragt, was Gott will, muss auf Jesu Botschaft hören. Wer dem Wunsch und Willen Gottes entsprechend leben und handeln will, muss sich fragen: „What would Jesus do?“ („Was würde Jesus tun?“).

Das bedeutet nicht, dass Gott sich nicht auch auf andere Weise offenbaren kann, offenbart hat und auch heute noch offenbart: in der Schöpfung, in der Geschichte, in anderen Heiligen Schriften und Religionen, in der Seele oder im Gewissen jedes einzelnen Menschen. Aber es bedeutet, dass all diese anderen Offenbarungsweisen Gottes ihre Mitte in der zentralen Offenbarung in seinem Sohn Jesus Christus haben und sich an dieser messen lassen müssen. Das ist der Absolutheitsanspruch des Christentums. Christus ist das entscheidende „Wort Gottes“ für diese Welt und alle Menschen.

„Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Johannes 1,14)

Wenn nun aber Jesus Christus Gottes Wort an uns Menschen ist, welche Rolle spielt dann die Bibel für den christlichen Glauben? Inwiefern ist auch sie Gottes Wort und damit Heilige Schrift für uns?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht ganz einfach und auch unter Christen durchaus umstritten. Manche glauben, die Bibel sei in allen ihren Teilen wortwörtlich vom Geist Gottes eingegeben („verbal inspiriert“). Sie dürfe darum in all ihren Aussagen – auch in den historischen oder naturwissenschaftlichen – nicht hinterfragt oder angezweifelt werden. Solche Christen nennen sich gerne „bibeltreu“ und werfen Andersdenkenden vor, dass sie sich mit ihrem „historisch-kritischen“ oder „liberalen“ Bibelverständnis zu Herren über die Schrift machen und die Bibel nicht wirklich ernst nehmen. Die so Kritisierten wiederum halten solche „bibeltreuen Christen“ für fundamentalistische Biblizisten, die zwischen der Welt der Bibel und der modernen Welt unnötige Barrieren aufrichten.

Die einen wie die anderen aber lesen die Bibel mit ihrer je eigenen Hermeneutik. Das heißt: Sie bringen ein Vorverständnis mit, das den Rahmen für ihre Interpretation der Bibel bildet. Das ist auch gar nicht anders möglich! Es gibt keine voraussetzungslose Exegese der Bibel. Wichtig ist darum, sich über dieses Vorverständnis Rechenschaft abzulegen und es kritisch zu reflektieren.

Religionswissenschaftlich betrachtet gehört das Christentum – zusammen mit dem Judentum und dem Islam – jedenfalls zu den sogenannten „Buchreligionen“ (vgl. Körtner 85f). Für diese Religionen ist eine heilige Offenbarungsschrift oder Schriftensammlung zentral wichtig. Die Stellung, die diese Heilige Schrift in der jeweiligen Religion einnimmt, ist allerdings durchaus unterschiedlich.

„Im Judentum steht gleichberechtigt neben der schriftlichen die mündliche Tora, die wie die schriftliche auf die Offenbarung am Sinai zurückgeführt wird. Das Christentum hat einen zweigeteilten Kanon, dessen erster Teil aus der jüdischen Bibel besteht, die bemerkenswerterweise nicht christlich redigiert worden ist, sondern im Neuen Testament und durch dieses als Ganzes christlich, d. h. christologisch interpretiert wird. Während der jüdische Tanach und die christliche Bibel eine Sammlung von Schriften unterschiedlicher Literaturgattungen sind, ist der Koran ein durchgängig als prophetischer Text gestaltetes Buch, das als Abschrift einer himmlischen Urschrift gilt.“ (Körtner 85)

Erhellend ist der Vergleich zwischen Christentum und Islam: „Heißt es bei Paulus in Gal 4,4, dass Gott, als die Zeit erfüllt war, seinen Sohn sandte, so in Sure 97, dass Allah in der Nacht der Bestimmung den Koran herabsandte. Während also der Koran für den Muslim unmittelbar Gottes Wort ist, steht die christliche Bibel nur indirekt als Wort Gottes in Geltung, weil dieses nicht mit einem Buch oder dessen himmlischer Vorlage, sondern mit dem menschgewordenen Logos, d. h. mit der Person Jesu Christi identisch ist.“ (Körtner 85f).

Was bedeutet das für das Verständnis der Bibel? Wenn Gott sich in Jesus Christus offenbart hat, wenn Jesus Christus Gottes Wort in Person an uns Menschen ist, welche Funktion hat dann die Bibel für uns Christen?

Zunächst einmal: Ohne die Bibel wüssten wir nichts von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus! Von ihr erfahren wir nur durch die Schriften des Neuen Testaments. Hier hören wir die ersten Zeugen von Jesus Christus, auf deren Zeugnis sich die christliche Gemeinde beruft. Dies geschieht von Anfang an unter Einbeziehung der heiligen Schriften des Judentums.

Für beide Teile der Bibel aber gilt: Sie sind „Gottes Wort in Menschenmund“ (Rechenschaft vom Glauben 17). Ihre Bücher sind geprägt von den Umständen, unter denen sie entstanden sind.

„Ihre Sprachen, ihre Denkweisen und ihre literarischen Formen sind den Orten und Zeiten verhaftet, aus denen sie stammen. Deshalb ist der christlichen Gemeinde und ihrer Theologie im Hören auf Gottes Wort auch das geschichtliche Verständnis der Heiligen Schrift aufgetragen.“ (Rechenschaft vom Glauben 17).

Dabei rechnet sie – auch ohne Verbalinspiration! – mit dem Wirken des Heiligen Geistes, nicht nur bei der Entstehung, sondern auch bei der Auslegung der Bibel! „Die Bibel lebt, denn Gott redet durch sie.“ (Rechenschaft vom Glauben 17). Das aber bedeutet: „Christen stehen im Dialog mit der Bibel, nicht unter ihrem Diktat.“ (Lang 20)

 

Zum Weiterlesen:

  • Kurt Aland / Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis moderner Textkritik. Stuttgart 1989.
  • Stefan Alkier, Neues Testament. Tübingen / Basel 2010.
  • Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R.(Hrsg.), Rechenschaft vom Glauben (1977/78). Kassel 2009.
  • Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas. Habilitationsschrift an der Universität Heidelberg 1952. 7. Aufl. Tübingen 1993.
  • Alexander Achilles Fischer, Der Text des Alten Testaments. Neubearbeitung der Einführung in die Biblia Hebraica von Ernst Würthwein. Stuttgart 1988.
  • Helmuth von Glasenapp, Die fünf Weltreligionen. Hinduismus, Buddhismus, Chinesischer Universismus, Christentum, Islam. München 1963, Sonderausgabe 1996.
  • Annette Großbongardt / Johannes Saltzwedel (Hrsg.), Die Bibel. Das mächtigste Buch der Welt. München 2015.
  • Ulrich H.J. Körtner, Einführung in die theologische Hermeneutik. Darmstadt 2006.
  • Ida Lamp / Thomas Meurer, Basiswissen Bibel. Gütersloh 2002.
  • Bernhard Lang, Die 101 wichtigsten Fragen: Die Bibel. München 2013.
  • Hanna Liss, TANACH. Lehrbuch der jüdischen Bibel. Heidelberg 2005.
  • Hans-Joachim Simm (Hrsg.), Aspekte der Bibel. Themen, Figuren, Motive. Freiburg / Basel / Wien 2017.