„Verstehst du auch, was du liest?“
Wie verstehen wir die Bibel?
Von Maximilian Zimmermann | Erschienen in HERRLICH 02|2024, Seiten 6-10 | 11:34 MIN
Die Grundfrage des Verstehens
„Der Adler ist gelandet!“ – Diese wenigen Worte klingen erstmal unspektakulär. Wahrscheinlich passiert es jetzt in diesem Moment vielfach auf dieser Welt, dass irgendwo ein Adler landet. Doch das ist mit diesem Satz gar nicht gemeint. Diese vier Worte sind am 20. Juli 1969 gesprochen worden. Und der Mann, der sie gesprochen hat, heißt Neil Armstrong. Gemeint ist mit diesem Satz nicht das Landen eines Adlers irgendwo auf dieser Welt, sondern die erste bemannte Mondlandung der Menschheitsgeschichte an diesem Tag. Wer die Bedeutung dieser Worte finden möchte, muss sich auf die Suche nach dem richtigen Verstehen machen.
Szenenwechsel: Ein hoher Staatsbeamter sitzt auf einem Wagen und befindet sich auf der Rückreise von Jerusalem nach Äthiopien. Und seine Reiselektüre bereitet ihm Kopfzerbrechen. Er liest einen Text aus dem Alten Testament, genauer: aus dem Buch Jesaja, Kapitel 53. Dort ist die Rede von einem „Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird“ und von einem „Lamm, das vor seinem Scherer verstummt“; und von einem Menschen, der in seinem Verhalten diesen Tieren gleicht: Stumm, ohne seinen Mund aufzutun, geht er seinen Weg des Leidens. Doch dem hohen Staatsbeamten aus Äthiopien bleibt rätselhaft, was und vor allem: wer damit gemeint ist. Hier geht es zwar nicht um einen Adler und um eine Landung, aber die Fragestellung, die sich auftut, ist die gleiche: Wer oder was ist eigentlich mit diesen Worten gemeint? Und im weiteren Verlauf der neutestamentlichen Begebenheit bringt der Kämmerer aus Äthiopien die Frage auf den Punkt. Er fragt seinen Reisebegleiter Philippus: „Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selbst oder von jemand anderem?“ (Apg 8,34) Wer ist gemeint mit diesen Worten? Damit ist die Grundfrage der Hermeneutik gestellt, der Lehre des richtigen Verstehens. Wer Hermeneutik betreibt, der fragt: Wer oder was ist gemeint?
Die Grundfrage des Verstehens und die Bibel
Die oben schon erwähnte Begebenheit vom äthiopischen Kämmerer und seinem hermeneutischen Helfer Philippus in Apostelgeschichte 8 führt uns direkt in die Bedeutung der Hermeneutik für das Lesen der Bibel: Mit jedem Wort, jedem Satz und auf jeder Seite dieses wundervollen Buches mit seinen meist über 1200 Seiten stellt sich ständig die Frage: Verstehen wir eigentlich, wer oder was da gemeint ist?
Dabei ist es die erste und wichtigste Verstehens-Regel, dass wir danach fragen, wie die Worte und Texte selbst verstanden werden wollen. Um es am Eingangsbeispiel zu verdeutlichen: Nicht wir dürfen entscheiden, ob mit dem Satz nun eine Adlerlandung oder eine Mondlandung gemeint ist, sondern der Satz bzw. sein Autor entscheiden, was gemeint ist. Das gilt umso mehr für die Worte und Texte der Bibel.
Nun ist die Bibel ein Buch, das sich aus 66 Büchern zusammensetzt, die aus sehr verschiedenen Zeiten und Orten stammen und von ganz verschiedenen Menschen verfasst wurden. Zwischen ihren Buchdeckeln vereint sie ganz unterschiedliche Stile: Berichte, Erzählungen, Gesetzestexte, Weisheitssprüche, Lieder, Gedichte, Briefe, apokalyptische Texte; um nur einige zu nennen. Einerseits ist das eine wunderbare Vielfalt; andererseits ist das eine riesige Herausforderung für das Verstehen. Immer wieder ist zu fragen: Wie wollen diese Texte verstanden werden?
Eine erste Antwort ist: Zunächst als das, was sie sind. Das heißt: Wer den Bericht ernst nehmen möchte, versteht ihn als Bericht. Alles andere wäre ihm gegenüber respektlos. Würde ich den Bericht wie ein Gedicht interpretieren, z. B. im übertragenen Sinne, dann hätte ich ihn nicht so verstanden, wie er verstanden werden will. Das gleiche gilt auch für alle anderen Textgattungen der Bibel: Wer den Brief ernst nimmt, versteht ihn als Brief; wer den Gesetzestext ernst nehmen möchte, versteht ihn als Gesetzestext usw. Alles andere wäre unangemessen. Um es am Eingangsbeispiel deutlich zu machen: Wer den Satz Neil Armstrongs über die Adlerlandung wörtlich versteht, hat ihn falsch verstanden, weil er im übertragenen Sinn verstanden werden will.
Damit kehren wir zu der bibelhermeneutischen Frage des Kämmerers aus Äthiopien zurück. „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30), fragt ihn Philippus. „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“ (Apg 8,31), antwortet der Kämmerer. Und dann hilft Philippus dem äthiopischen Kämmerer, die Worte zu verstehen. Im Text heißt es: „Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.“ (Apg 8,35) Wie genau das geschehen ist, wissen wir leider nicht. Was wir wissen, ist dies: Philippus beginnt mit der Schriftstelle aus Jesaja 53 und kommt von dort zur Predigt des Evangeliums von Jesus. Sofort stellt sich die hermeneutische Frage: Aber ist das denn angemessen gegenüber den Worten des Jesajabuches? Wenn es eine der wichtigsten hermeneutischen Regeln ist, die Absicht der Autorinnen und Autoren und ihrer Texte zu respektieren, dann stellt sich bei dem Auslegungsweg von Philippus die Frage: Wollte der Jesajatext auf die Verkündigung des Evangeliums von Jesus hinaus? Hat er das wirklich gemeint?
Zur Beantwortung dieser Frage ist ein kleiner gedanklicher Ausflug notwendig. Ja, die Bibel ist ein vielfältiges Buch aus 66 Büchern. Das hindert sie aber nicht daran, eben ein Buch aus 66 Büchern zu sein. Und diese Einheit in der Vielfalt hat vor allem einen Grund: den Heiligen Geist. Bei aller Vielfalt der biblischen Texte (siehe oben) ist es doch ein und derselbe Heilige Geist, der sie alle durchweht und zu einem Buch macht. Besonders ein Bibelvers bringt diesen Gedanken zum Ausdruck: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“ (2 Tim 3,16). Das griechische Wort hinter „von Gott eingegeben“ ist theopneustos und trägt damit in sich das griechische Wort für Gott und für den Geist oder den Hauch. Es ist der eine göttliche Hauch, der alle Schriften und damit die ganze Bibel durchweht. Und mit diesem Gedanken kehren wir zur Jesaja-Auslegung des Philippus zurück:
Auch wenn Jesaja selbst das Evangelium von Jesus noch nicht kennen konnte (er hat eben erheblich früher gelebt), atmet sein Text in Jesaja 53 unübersehbar etwas von dem, wie Jesus von Nazareth einige hundert Jahre später in den Tod am Kreuz von Golgatha gegangen ist: „Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf“, als er von Menschen zum Tode verurteilt und schließlich gekreuzigt wird. Der Text in Jesaja 53 und das Evangelium vom Kreuzestod Jesu atmen denselben göttlichen Herzschlag. Und deswegen ist es hermeneutisch nachvollziehbar und richtig, wenn Philippus von der Schriftstelle in Jesaja 53 zum Evangelium von Jesus Christus kommt.
Und das führt zu einer weiteren wichtigen bibelhermeneutischen Feststellung: Es gibt einen Autor, der hinter und in allen Autoren der Heiligen Schrift steckt: der Heilige Geist, Gott selbst. Wer also die biblischen Texte im Einzelnen sowie die Bibel als Ganze richtig verstehen möchte, der muss nach der Absicht dieses einen Autors und allen Autoren fragen. Seine Absicht findet sich wiederum in 2 Tim 3,16-17: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ Das also möchte der von Gott durchhauchte Bibeltext: Menschen zu Gott hin verändern – nicht zuletzt durch das gemeinsame Bibellesen mit anderen (siehe Apg 8!). Genau das geschieht auch mit dem Kämmerer aus Äthiopien: Jesajatext und Evangelium von Jesus und das Bibelgespräch darüber mit Philippus verändern ihn und sein Leben.
Die Grundfrage des Verstehens, die Bibel und ich
Der Kämmerer aus Äthiopien ist so bewegt, dass er sich sogleich von Philippus taufen lässt (Apg 8,38). Aus einem Nicht-Verstehen ist offenbar eine lebensverändernde Begegnung mit dem biblischen Text und mit dem Evangelium geworden.
Das ist nicht nur menschlich und geistlich bewegend, sondern auch hermeneutisch! Offenbar hat hier ein Verstehen stattgefunden, das ein ganzes Leben verändert. Der Kämmerer aus Äthiopien hat nicht nur in einem distanzierten, rein informativen Sinne verstanden, wer oder was gemeint ist mit diesen Worten, sondern auch in einem ganz persönlichen Sinne. Auch er ist gemeint mit dem, was Jesaja 53 und das Evangelium von Jesus sagen. Dieser Jesus Christus ist den stummen Weg des Leidens für ihn gegangen! Die hermeneutische Frage „Wer oder was ist gemeint?“ trifft ihn also am Ende der Suche nach dem richtigen Verstehen ganz persönlich.
Wollen das diese alten Texte? Offenbar ja. Der Bibeltext von damals meint mit dem, was er sagt, nicht nur die ersten Adressaten, sondern auch die weiteren Hörerinnen und Leser. Schon 2 Tim 3,16-17 deutet in diese Richtung. Aber auch an anderer Stelle im Neuen Testament wird deutlich, dass der Bibeltext weiter greift. In einer Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Korinth bezieht sich Paulus plötzlich auf einen Text aus dem Alten Testament, der in erster Linie den Umgang mit Tieren regelt. Paulus schreibt: „Denn im Gesetz des Mose steht geschrieben: ‚Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden.‘ Sorgt sich Gott etwa um die Ochsen? Oder redet er nicht überall um unsertwillen. Denn um unsertwillen ist es geschrieben. Wer pflügt, soll auf Hoffnung pflügen; und wer drischt, soll in der Hoffnung dreschen, dass er seinen Teil empfangen wird.“ (1 Kor 9,9-10) Aus Paulus‘ Sicht sind mit diesen Versen nicht nur Ochsen gemeint, sondern auch die grundsätzliche Frage, was ein gerechter Ausgleich für engagierten Einsatz ist. Das ist genau die Frage, die ihn gerade bewegt; und eine alttestamentliche Regelung spricht dort hinein.
Ich meine damit nicht, dass der erste Adressatenkreis übersprungen werden soll; aber offenbar ist es das Anliegen der biblischen Texte, weiter zu wirken, auch über den ursprünglichen Adressatenkreis hinaus. Das griechische Wort für Lesen (so auch in unserem Zentralvers Apg 8,30!) heißt anagignoskein, was so viel bedeutet wie wiedererkennen. Lesen heißt also wiedererkennen, wer oder was mit den Worten gemeint ist. Und genau das erleben Menschen bis heute in vielerlei Weise: Dieses Wort, dieser Satz, dieser Text der Bibel meint mich; mit meiner Frage, meinem Leben, meinen Gedanken.
Ein Beispiel für dieses Gemeint-Sein findet sich in den Tagebüchern von Dietrich Bonhoeffer. Unruhig befindet er sich kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Juni 1939 für einen längeren Aufenthalt in New York. Doch sein Herz sagt ihm, dass er zurück muss nach Deutschland; zurück zu seinen Weggefährten und Freunden – was auch immer da komme. Mitten hinein in das Ringen mit diesen Fragen liest er den Losungs-Lehrtext des 26. Juni 1939: „Heute las ich zufällig aus 2. Tim. 4[,21] ‚komme noch vor dem Winter‘ – die Bitte des Paulus an Timotheus. Timotheus soll das Leiden des Apostels teilen und sich nicht schämen. ‚Komme noch vor dem Winter‘ – es könnte sonst zu spät sein. Das geht mir den ganzen Tag nach. […] Es ist nicht Mißbrauch der Schrift, wenn ich das mir gesagt sein lasse.“ (DBW 15, 234) Nur wenige Tage später befindet er sich auf dem Weg in die Heimat; und es werden sich dramatische Lebensjahre an diesen Entschluss anschließen. Bonhoeffer hat sich mit seiner aktuellen Frage im Bibeltext wiedererkannt und den Eindruck gewonnen, dass nicht nur Timotheus damals, sondern auch er in seinem Heute gemeint ist.
Diese Erfahrung, dass auch wir gemeint sind mit den Worten und Sätzen und Texten der Bibel – wie der Kämmerer, Paulus oder Dietrich Bonhoeffer – sind einerseits pure Gnade. Denn das Verstehen eines Textes hängt immer davon ab, dass wir das Anliegen des Autors erfassen. Und das ist im Falle der Bibel letztlich der Heilige Geist. Daher ist die Grundhaltung der Bibellektüre eine Bitte: Geist Gottes, bitte lass mich erkennen, was du meinst. Und andererseits zeigt das Gespräch zwischen Philippus und dem Kämmerer, dass theologisches Wissen für das Verstehen des Bibeltextes sehr hilfreich ist. Philippus kann dem Kämmerer die Zusammenhänge erklären; und das ist viel wert, wenn Menschen sich auf den Weg machen, die Bibel zu verstehen.
„Die Bibel lebt, denn Gott redet durch sie.“ So sagt es unser Bekenntnis, die „Rechenschaft vom Glauben“. In der Bibel hat sich die große Offenbarungsgeschichte Gottes in Worte gefasst. Deshalb sind diese Worte wie ein Fenster zum lebendigen Gott; dem Gott, der Geschichte geschrieben hat, weil er dich und mich meint.
Zum Weiterlesen:
Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland K.d.ö.R. (Hrsg.), Rechenschaft vom Glauben (1977/78). Kassel 2009.