Methoden der Bibelauslegung und was sie zum Verstehen biblischer Texte beitragen
Von Volkmar Hamp | Erschienen in HERRLICH 02|2024, Seiten 12-20 | 11:34 MIN
Die Bibel zu lesen bedeutet, sie zu interpretieren und auszulegen. Dies kann in der persönlichen und gemeinschaftlichen Beschäftigung mit biblischen Texten ganz „unmethodisch“ vonstatten gehen. Im Laufe der Zeit sind aber verschiedene methodische Zugänge zu biblischen Texten entwickelt worden, die zu einem vertieften und vielleicht auch sachgemäßeren Verstehen der biblischen Tradition helfen wollen. Einige dieser Methoden der Bibelauslegung – längst nicht alle! – werden im Folgenden vorgestellt. Anschließend wird ihre praktische Bedeutung am Beispiel eines biblischen Textes, der Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1-16), skizziert. Dabei orientiere ich mich an dem Buch „Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung“ von Horst Klaus Berg (München / Stuttgart 1991).
Methoden der Bibelauslegung
Historisch-kritische Auslegung
Grundlage aller Bemühungen um das Verstehen biblischer Texte ist heute die sog. „historisch-kritische Auslegung“. Ihr Ziel ist, die Entstehungsgeschichte biblischer Texte zu rekonstruieren und ihre Bedeutung im Rahmen dieser Entstehungsgeschichte zu erfassen. Der historisch-kritischen Auslegung geht es also um den „ursprünglichen“, den „historischen Sinn“ der biblischen Texte, der dann auf seine Bedeutung für die heutige Zeit und jetzt lebende Menschen befragt werden kann. Wobei „Kritik“ in diesem Zusammenhang nicht „negative Beurteilung“, „Bemängelung“ oder „Beanstandung“ meint, sondern – dem ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes entsprechend – „Unterscheidung“, „Beurteilung“ anhand bestimmter, möglichst sachgemäßer Kriterien.
Mit Hilfe verschiedener Methoden werden die biblischen Texte zunächst analysiert. Die Literarkritik fragt nach sprachlichen und sachlichen Unstimmigkeiten in den Texten, die auf unterschiedliche Entwicklungsstufen und Bearbeitungen schließen lassen. Die Überlieferungskritik fragt danach, welche Vorstufen die Texte vor ihrer Verschriftlichung in der mündlichen Tradition gehabt haben könnten. Die Quellen- und Redaktionskritik fragt, ob und wie sich die biblischen Texte nach ihrer ersten Verschriftlichung weiterentwickelt haben: Gibt es Ergänzungen, Überarbeitungen, Zusammenführungen verschiedener Textbausteine und Quellen? Und wie ist die finale Komposition zu verstehen? Weitere Methoden sind die Form- und Gattungskritik (Welche geprägten Stilelemente verwenden die Texte?) und die Traditionskritik (Auf welche inhaltlichen Motive, Bilder und Themen greifen die Texte zurück?).
Im Anschluss an diese „historische Kritik“ wird gefragt, welcher geschichtlichen Situation / welchen geschichtlichen Situationen sich der jeweilige Text in seinem Entstehungsprozess zuordnen lässt. Was ist sein historischer Ort, sein „Sitz im Leben“? Hinzu kommt die Klärung unterschiedlichster Einzelaspekte: Begriffe, Personen, Handlungen, Orte, Namen … Historische Wörterbücher und Lexika helfen dabei. Erst ganz zum Schluss wird nach dem „historischen Sinn“ der Texte gefragt: Was sind ihre grundlegenden inhaltlichen Aussagen, ihre Intentionen zur Zeit ihrer Entstehung? Diese „historische Sinnbestimmung“ ist dann der Ausgangspunkt der „Übertragung“ oder „Auslegung“ für die heutige Zeit.
Existentiale Auslegung
Die existentiale Auslegung biblischer Texte fragt danach, inwiefern ein Bibeltext die Person, die sich damit beschäftigt, persönlich berührt und in ihrer Existenz betrifft. Sie geht davon aus, dass die biblischen Texte sich mit Grundfragen des menschlichen Lebens, sog. „Existentialien“ beschäftigen: Glück – Sorge – Angst – Freude – Liebe – Hoffnung etc. In der Bibel würden diese Themen oft verschlüsselt, in „mythologischer Form“, verhandelt. Mit Hilfe der existentialen Interpretation versuche man, diese Mythen so zu interpretieren, dass die in ihnen verborgenen Grundfragen menschlichen Seins zur Sprache kommen.
Dazu gehört zunächst einmal, dass der „historische Graben“ wahrgenommen wird, der unsere Zeit von der Entstehungszeit der biblischen Texte trennt. Dazu braucht es die oben beschriebene historisch-kritische Auslegung. Anschließend werden die „mythischen“ Elemente der biblischen Texte identifiziert und das ihnen zugrunde liegende Existenzverständnis herausgearbeitet. Zum Beispiel, indem gefragt wird, was die Vorstellung von Gott als „König“ über die Beziehung der zur biblischen Zeit lebenden Menschen zum Göttlichen aussagt. In einem weiteren Schritt wird das auf die heutige Zeit übertragen: Welche Einstellungen heute lebender Menschen spiegeln sich in den biblischen Texten oder werden durch sie in Frage gestellt? Welche Entscheidungen stoßen die biblischen Texte an? Wie berühren, bewegen, verändern sie uns? Welche Konsequenzen ziehen wir aus ihnen für unser eigenes Leben?
Linguistische Auslegung
Anders als die historisch-kritische Auslegung (s. o.) fragt die linguistische (sprachwissenschaftliche) Auslegung nicht nach der Entstehungsgeschichte und dem historischen Ort eines biblischen Textes. Sie beschäftigt sich mit dem jetzt vorliegenden Text und seiner Gestalt. Heutige Leserinnen und Leser werden eingeladen, sich auf diese „Textwelt“ einzulassen, sich mit den eigenen Erfahrungen darin wiederzufinden und daraus Impulse für die Gestaltung des eigenen Lebens und Glaubens mitzunehmen.
Dabei bedient sich die linguistische Auslegung des ganzen methodischen Arsenals der Literaturanalyse. Sie fragt nach der Erzählperspektive, nach charakteristischen Sprachmustern und Stilelementen, nach den Akteuren in den Texten und ihren Beziehungen zueinander und so weiter und so fort. So versucht die linguistische Auslegung, den „Textsinn“ zu erfassen, um ihn anschließend auf seine Bedeutung für die heutige Zeit und heutige Leser und Leserinnen zu befragen.
Intertextuelle Auslegung
Die intertextuelle Auslegung legt bei der Interpretation biblischer Texte den Schwerpunkt auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Texten – und was sich daraus für das Verständnis dieser Texte entnehmen lässt. Dabei achtet sie auf verschiedene „Schichten“ in einzelnen Texten und auf deren „Nachgeschichte“ in der biblischen Überlieferung. Außerdem spürt sie „wachsenden Themen“ nach (Schöpfung, Exodus, Passion etc.). Sie erforscht, wie diese Themen im Ganzen der biblischen Überlieferung auftauchen, aufgegriffen, verändert und weiterentwickelt werden.
Wirkungsgeschichtliche Auslegung
Die wirkungsgeschichtliche Auslegung kann man als Fortführung und Erweiterung der intertextuellen Auslegung verstehen. Nur werden hier nicht die innerbiblischen Beziehungen biblischer Texte betrachtet, sondern deren Spuren in der nachbiblischen Geschichte und Literatur bis in die Gegenwart. Dabei geht es um „Auslegungsgeschichte“ (Wie wurden die biblischen Texte in späterer Zeit aufgegriffen, verstanden und interpretiert?), vor allem aber um „Praxisgeschichte“ (Wer hat welchen Text in welcher Situation mit welcher Absicht verwendet?). Insofern hat die wirkungsgeschichtliche Auslegung einen starken ideologiekritischen Aspekt. Sie fragt: Wozu wurden Bibeltexte in der Geschichte ihrer Auslegung benutzt bzw. missbraucht?
Um diese Frage zu klären, werden alle möglichen Quellen gesichtet und analysiert: Kommentare, Predigten, Reden, literarische Werke, Werke der bildenden und darstellenden Kunst – und heute auch Filme, Comics, Computerspiele, Internetseiten, Podcasts, Blogs, Vlogs und vieles andere mehr …
Verschiedene Rezeptionsmechanismen werden aufgedeckt: Selektion bestimmter Texte, Kombination mit anderen Texten, Aktualisierung und Adaption der biblischen Texte in unterschiedlichen Situationen und Ähnliches …
Schließlich wird die Wirkungsgeschichte der Texte kritisch hinterfragt: Entspricht sie deren Selbstverständnis und den grundlegenden Impulsen der Bibel? Werden die biblischen Grundaussagen sachgemäß aufgegriffen und im Sinne der biblischen Botschaft weitergeführt? Oder wird die biblische Botschaft verfälscht, umgebogen, falsch interpretiert oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt?
So lässt sich mit Hilfe der wirkungsgeschichtlichen Auslegung der ursprüngliche Sinn biblischer Texte und ihre praktische Bedeutung für heute (wieder)entdecken.
Psychologische Auslegung
Die psychologische Auslegung hat zum Ziel, einen Dialog zwischen den in den biblischen Texten aufbewahrten Erfahrungen und dem Leben heutiger Leser und Leserinnen anzubahnen. Dabei können verschiedene psychologische Ansätze eine Rolle spielen. In erster Linie die Tiefenpsychologie nach Sigmund Freud (1856-1939) und Carl Gustav Jung (1875-1961). Dann aber auch die Entwicklungspsychologie, die Kognitionspsychologie, die Sozialpsychologie, die Persönlichkeitspsychologie und manches andere mehr. Die biblischen Texte werden durch die Brille psychologischer Konzepte und Methoden – und damit aus einer neuen, erfrischenden Perspektive! – betrachtet.
Befreiungstheologische Auslegung
In den letzten 50 Jahren hat die Auslegung biblischer Texte viele neue Impulse aus der sog. „Befreiungstheologie“ erhalten. Diese auf der Südhalbkugel unserer Erde entstandene theologische Bewegung versteht sich als „Stimme der Armen“. Sie will zu ihrer Befreiung von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung beitragen. Aus der Perspektive sozial benachteiligter Menschen werden biblische Traditionen als Impulse für eine umfassende Gesellschaftskritik interpretiert. Die biblische Überlieferung wird als Bericht über eine befreiende Praxis verstanden, die auch heute zu einem neuen, befreiten Leben einlädt – und dazu, die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, dass ein solches, befreites Leben möglich wird. Damit orientiert sich die Befreiungstheologie an der prophetisch-befreienden Grundausrichtung der biblischen Überlieferung.
Dem entsprechen ihre Methoden:
- Narrative Erschließung: Bibel und aktuelle Situation werden erzählend vergegenwärtigt und miteinander in Beziehung gesetzt.
- Kritische Reflexion: Die aktuelle Situation der Bibellesenden wird auf ihre Verursachung und ihr Veränderungspotential hin analysiert.
- Dialogische Verarbeitung: Im Dialog mit biblischen Texten und miteinander werden Impulse zur Veränderung der persönlichen und gesellschaftlichen Situation der Bibellesenden entdeckt.
- Ganzheitliche Erschließung: Diese Impulse werden aufgegriffen. Sie fließen in die persönliche und gesellschaftliche Gestaltung des Lebens und der Welt ein.
Feministische Auslegung
Auch die Feministische Theologie versteht sich als Befreiungstheologie, wobei hier der Ausgangspunkt des theologischen Denkens die Erfahrung der Unterdrückung von Frauen in einer von Männern dominierten, patriarchalen Gesellschaft ist. Aus dieser Perspektive werden die biblischen Texte einer kritischen „Re-Vision“ unterzogen: Inwieweit sind sie selbst Produkte einer patriarchalischen Weltordnung oder werden dafür missbraucht, eine solche Weltordnung zu legitimieren und zu stützen? Ziel der feministischen Auslegung ist, dies aufzudecken, die biblischen Texte von patriarchalen Überlagerungen zu befreien und ihr Befreiungspotential für das Verhältnis der Geschlechter zu heben. Biblische Frauengestalten werden als Identifikationsfiguren heutiger Befreiung wiederentdeckt und rehabilitiert. Die weiblichen Aspekte im biblischen Gottesbild werden betont. Dabei orientiert sich die feministische Auslegung – wie die Befreiungstheologie (s. o.) – an der prophetisch-befreienden Linie biblischer Überlieferung.
Interreligiöse Auslegung
Unter Interreligiöser Auslegung versteht man die Beschäftigung mit biblischen Texten in interreligiöser Perspektive. Das heißt: Christliche und nichtchristliche religiöse Traditionen kommen über die biblischen Texte miteinander ins Gespräch. Viele Anknüpfungspunkte bieten hier naturgemäß die Auslegungstraditionen der beiden anderen abrahamitischen Religionen Judentum und Islam. Aber auch der Dialog mit anderen religiösen Traditionen (Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus, Taoismus u.a.) kann neue und überraschende Erkenntnisse liefern.
Interaktionale Auslegung
Als Bündelung und Zusammenführung unterschiedlicher Auslegungstraditionen kann die interaktionale Auslegung verstanden werden. Sie setzt die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese voraus und greift das Interesse der existentialen Interpretation auf, die biblischen Texte mit der Welt der heutigen Leser und Leserinnen in Beziehung zu setzen. Dafür fragt sie nach deren Erfahrungsbezug im Alltag, im Verstehen der Texte, im ganzheitlichen Erleben und im Gruppengeschehen. Drei idealtypische Phasen der interaktionalen Auslegung sind eine erste Annäherung an den Text, dessen Erarbeitung und die abschließende Gestaltwerdung oder Verleiblichung.
Den drei Phasen entsprechen die Methoden.
Phase 1: Hören auf den Text, ihm begegnen, ihn mit dem eigenen Leben in Beziehung setzen, Assoziationen zum Text sammeln, ihn meditieren.
Phase 2: Arbeit am Text, Stukturierung des Textes, innerbiblischer Vergleich und/oder Vergleich verschiedener Übersetzungen, Fragenkataloge, linguistische Auslegung, Sammeln und Sichten von weiterführenden Informationen zum Text, identifizierende Erschließung des Textes.
Phase 3:Auseinandersetzung mit dem Text im Spiel, in Bildbetrachtungen, in künstlerischer oder musikalischer Gestaltung, in Pantomime oder Tanz, im schriftstellerischen Dialog (Interview, Weitererzählung etc.).
Methoden interaktionaler Bibelauslegung sind auch das Bibliodrama, der Bibliolog und das Bible Art Journaling.
Ein Beispiel: Die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1-16)
historisch-kritische Auslegung
In historisch-kritischer Perspektive ist die Geschichte von Kain und Abel (Gen 4,1-16) Teil der biblischen „Urgeschichte“ (Gen 1-11), die aus unterschiedlichen „Quellen“ und/oder „Redaktionsschichten“ besteht. Hier wird sie meist dem wegen der auffälligen Verwendung des Gottesnamens JHWH so genannten „Jahwisten“ zugeordnet. Dabei ist umstritten, ob es sich dabei um eine eigene Quellenschrift (ältere Forschung), um alte Einzeltraditionen oder um eine eigenständige, unterschiedlich datierte Redaktionsschicht handelt (neuere Forschung).
Inhaltlich ist für den „Jahwisten“ vor allem das Motiv des Segens und der Landverheißung an Israel wichtig, sowie der Bezug des Segens auf die anderen Völker, für die Israel selbst zum Segen werden soll. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Thema „Sünde“ spielt eine wichtige Rolle (vgl. Gen 3; 6,1-4; 11,1-9). Dabei zeigt der „Jahwist“, dass nicht nur die Sünde sich unter den Menschen immer weiter ausbreitet. Parallel dazu zieht auch der Segen, „ein heimliches Mächtigwerden der Gnade“ (Gerhard von Rad), immer weitere Kreise.
In der Geschichte von Kain und Abel wird der „Sündenfall“ der tötenden Gewalt thematisiert. Wie in Gen 3 ist die eigentliche „Sünde“ auch hier, Gott nicht Gott sein zu lassen, sondern sich selbst zu nehmen, was eigentlich ihm zukommt. Dabei spielt die religiöse Dimension eine wichtige Rolle. Schließlich findet der Brudermord im Zusammenhang mit einem Gottesdienst statt. „Wo es um die religiöse Dimension geht, ist oft tödlicher Fanatismus nicht weit!“ (Berg 76).
Als Teil der „Urgeschichte“ erzählt auch die Geschichte von Kain und Abel nicht etwas „Einmaliges“, sondern etwas „Erstmaliges als Allmaliges“ (Erich Zenger). Für alle Menschen zu allen Zeiten gilt, dass sie sich in Kain und Abel wiederfinden können.
existentiale Auslegung
Dieser Gedanke schlägt die Brücke zur existentialen Auslegung der biblischen Geschichte. Wenn schon für den „Jahwisten“ gilt, dass in seinen Erzählungen nicht singuläre Einzelschicksale individueller „Urmenschen“ zur Sprache kommen, sondern grundlegende Verhaltensweisen des Menschen in seiner Beziehung zu Gott und anderen Menschen, dann drängt sich eine „existentiale Interpretation“ dieser Erzählungen geradezu auf.
Dabei spielt die existentielle Erfahrung der Unverfügbarkeit Gottes eine wichtige Rolle: Gott sieht Abel und sein Opfer an, Kain und sein Opfer jedoch nicht. Die Reaktion Kains ist die eines Menschen, der nicht auf Gott vertraut, sondern die Dinge selbst in die Hand nimmt. Dabei maßt er sich die Verfügungsgewalt über das Leben seines Bruders an und setzt sich so an die Stelle Gottes. Doch wer das Leben anderer Menschen zerstört, setzt dadurch auch sein eigenes Leben aufs Spiel. Nur Gottes Gnade kann diesen Teufelskreis durchbrechen. Das ist die „frohe Botschaft“, das „Evangelium“ dieser Geschichte.
Existentiale Auslegung bedeutet, existentielle Fragen an den biblischen Text zu stellen und sich diese Fragen vom Text beantworten zu lassen: Wie gehen wir mit dem Gefühl des Nicht-gesehen-werdens, des Neides und der daraus resultierenden Aggression um? Wie erleben wir in solchen Situationen Gott und Gottes Gerechtigkeit? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Schuld und Schicksal? Wie kann dieser Zusammenhang durchbrochen werden? Und die vielleicht wichtigste Frage: „Bist du Kain?“
linguistische Auslegung
Die linguistische Auslegung versteht die Geschichte von Kain und Abel als literarisches Kunstwerk. Durch die Gestaltung von Raum und Zeit werden wir mit hineingenommen in die Geschichte. Aus der Vogelperspektive betrachten wir zunächst den sich in unbestimmter Ur-Zeit anbahnenden Konflikt (Gen 4,1-7). Die Zeit vor dem Mord findet durch die Aufforderung Kains an seinen Bruder, mit ihm aufs Feld zu gehen (Gen 4,8), ein jähes Ende. Plötzlich werden wir in das dramatische Geschehen, das sich aus diesem Konflikt ergibt, hineingezogen. Der Mord ist der Höhepunkt der Erzählung, der Moment der Krise. In der Zeit nach dem Mord ist alles anders geworden. Es gibt kein Zurück zur Idylle des Anfangs. Der letzte Vers (Gen 4,16) erweitert erneut die Perspektive: Wie wird es Kain „jenseits von Eden“ ergehen?
Die Charakteristik der handelnden Personen (Kain, Abel, JHWH) eröffnet den Lesenden vielfältige Identifikationsmöglichkeiten: Kain und sein Zorn, seine Ausflüchte nach der Mordtat, seine Angst vor den Konsequenzen. Abel, dessen Blut zum Himmel schreit. JHWH, der sieht, hört und spricht, verflucht und sich dennoch erbarmt.
Weiter kann gefragt werden, welche Werte die handelnden Personen leiten: naives Vertrauen? (Abel) Fehlende Anerkennung? (Kain) Bewahrende Fürsorge? (JHWH) Auch die Beziehungen der einzelnen Akteure zueinander (Adam, Eva, Kain, Abel, JHWH, die anderen Menschen) und wie die sich im Laufe der Erzählung verändern, können spannende Perspektiven eröffnen.
intertextuelle Auslegung
Eine intertextuelle Auslegung der Geschichte von Kain und Abel fragt zunächst nach den innerbiblischen Spuren, die sie hinterlassen hat. Die sind spärlich. An einigen Stellen ist vom „Blut Abels“ die Rede, als Beispiel für die Verfolgung unschuldiger Boten Gottes (Mt 23,35; Lk 11,51) und als Vorbild des Glaubens (Hebr 11,4). Dessen Blut, so heißt es, redet nicht so machtvoll wie das Blut Christi (Hebr 12,24). An zwei Stellen wird als warnendes Beispiel an die Bosheit Kains erinnert (1 Joh 3,12; Jud 11). „Außer der Beobachtung, dass bereits im Neuen Testament die deutliche Tendenz zur Moralisierung der alten Erzählung dominiert (Abel: Der Gerechte und Gute, Kain der Übeltäter), gibt dieser Ausflug in die Geschichte eigentlich nichts her, von einer Geschichte der wachsenden Erfahrung mit diesem Thema und diesen Personen kann nicht die Rede sein.“ (Berg 320f)
Ergiebiger sind da einzelne Motive. Zum Beispiel das Motiv der rivalisierenden Geschwister, zu dem es manche Parallelen gibt (Gen 27: Jakob und Esau, Gen 29: Rahel und Lea, Lk 15,11-32: Die verlorenen Söhne). Oder das Motiv der in vielfacher Hinsicht mit dem Menschen verbundenen Erde (Gen 4,10; vgl. Gen 2,7; Lev 25,23; 1 Kön 21; Am 2,6ff; Hose 4,2f; Mt 5,5 u. ö.). Auch dem Motiv des Mordes und der (Blut-)Rache könnte man nachspüren.
wirkungsgeschichtliche Auslegung
Eine wirkungsgeschichtliche Auslegung der Geschichte von Kain und Abel folgt der Spur, die diese Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch in Theologie, Philosophie, Kunst, Literatur und Musik hinterlassen hat. Zum Beispiel in den großen Genesis-Kommentaren von Origenes(3. Jh. n. Chr.) bis Claus Westermann (3 Bde. 1974-1982) und darüber hinaus. Oder in Werken der Weltliteratur wie John Steinbecks Roman „Jenseits von Eden“ (1952) oder Hilde Domins Gedicht „Abel steht auf“ (1970). Inspirierend sind auch die Illustrationen zu dieser Geschichte von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) oder Paul Gustave Doré (1882-1883), sowie Gemälde von Tizian (16. Jh.), Assereto (17. Jh.) oder Cormon (19. Jh.). Auch das Oratorium „Kain oder Der erste Mord“ von Alessandro Scarlatti (1660-1725) und die Oper „Kain“ von Eugen d’Albert (1864-1932) seien erwähnt.
psychologische Auslegung
Auch für eine psychologische Auslegung bietet die Geschichte von Kain und Abel viele Anknüpfungspunkte. Hier nur ein Beispiel: Die handelnden Personen in der Geschichte können als Aspekte einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung verstanden werden. Ausgangspunkt ist ein von Angst und Unterwürfigkeit geprägtes Leben – vertrieben aus dem Garten Eden, aber unter dem allgegenwärtigen Blick Gottes! Der Versuch, Gott wohlwollend zu stimmen und seine Anerkennung zu gewinnen, scheitert. Die Verführung, sich deshalb nicht auf Gott, sondern auf die eigenen Möglichkeiten, die eigene Macht zu verlassen, ist groß. Ihr gilt die Mahnung, „über die Sünde zu herrschen“. Doch Menschen verfallen dem Machtstreben und töten die „Abel-Seite“ in sich ab. Damit verlieren sie den Zugang zum tragenden Grund ihres Seins. Doch solange sie leben, bekommen sie – „jenseits von Eden“ und „gezeichnet fürs Leben“ – jeden Tag neu die Chance, zum Menschen zu werden: ihre „Kain-und-Abel-Seiten“ zu integrieren und Hüter ihrer selbst und ihrer Menschengeschwister zu werden.
befreiungstheologische Auslegung
Eine befreiungstheologische Auslegung der Geschichte von Kain und Abel könnte die Kernfrage der Geschichte: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ zum Ausgangspunkt des Nachdenkens darüber machen, was diese Geschichte uns im Kontext heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse zu sagen hat. Wer sind unsere Brüder und Schwestern? Und wie gehen wir mit ihnen um? Wessen Blut schreit heute zum Himmel? Und was hat das mit uns und unserem Lebensstil zu tun? Wir fragen: Wo ist unser eigener Platz in dieser biblischen Geschichte? Mit wem identifizieren wir uns, mit Kain oder mit Abel? Und was erwarten wir in den heute ausgetragenen Konflikten zwischen Menschengeschwistern von Gott? Für wen wird er Partei ergreifen und in welcher Weise?
feministische Auslegung
Für eine feministische Auslegung bietet die Geschichte von Kain und Abel nur wenig Ansatzpunkte. Eine Frau (Eva) wird nur am Rande erwähnt (Gen 4,1). Ihre Rolle im Kontext der Urgeschichte (Gen 3; Gen 4,25f) wird unterschiedlich bewertet. Ist ihre im Vergleich mit Adam überlegene Aktivität in diesen Texten ein Beleg für die frühe Wertschätzung der Frau in der biblischen Überlieferung? Oder überwiegt das männliche Interesse, die Herrschaft des Mannes über die Frau als gottgegeben zu legitimieren? Spannend ist jedenfalls, dass die Gewalt auch in dieser Geschichte „Männersache“ ist – ein Phänomen, das sich durch die Jahrhunderte hindurch beobachten lässt. So kann man auch Gen 4,1-16 als Kritik am Patriarchat lesen: „Das unbeherrschte Ausleben maskuliner Gewalt führt unausweichlich in die Lebensvernichtung und ist darum Sünde.“ (Berg 264)
interreligiöse Auslegung
Spannend kann auch eine interreligiöse Auslegung der Geschichte von Kain und Abel sein. Schließlich gehört diese Geschichte nicht nur zur jüdischen und christlichen, sondern auch zur muslimischen Tradition. Man vergleiche zum Beispiel Gen 4,1-16 mit Midrasch Tanchuma zu Gen 4, Mischna Sanhedrin IV,5 und Sure 5: Der Brudermord aus dem Koran (vgl. Johann-Dietrich Thyen, Bibel und Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferung. 4. Aufl. Köln / Weimar / Wien 2015). Auch die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus („Über das Leiden“, „Über die Ursache des Leidens“, „Über die Beendigung des Leidens“ und „Über den Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt“) können mit Gen 4,1-16 ins Gespräch gebracht werden.
interaktionale Auslegung
Eine interaktionale Auslegung der Geschichte von Kain und Abel kann den drei Phasen der Methode folgen und sich aus deren Methodenvielfalt bedienen. Hier ein Beispiel:
Phase 1: Lesen mit verteilten Rollen, Freie Assoziation zum Text;
Phase 2: Strukturierung und Bearbeitung des Textes (z. B. mit Hilfe eines Fragenkatalogs), identifizierende Erschließung (z. B. durch imaginäre Dialoge mit Kain und Abel);
Phase 3: Kreatives Gestalten (z. B. „Der Kain in mir“), Beschäftigung mit künstlerischen Impulsen (Bilder, Gedichte, Lieder etc.) oder Verfremdungen zum Text (vgl. dazu Sigrid und Horst Klaus Berg [Hg.], Wer den Nächsten sieht, sieht Gott. Das Grundgebot der Liebe. Biblische Texte verfremdet 3. München / Stuttgart 1986, 15-26).
Fazit
Bibel lesen und Bibel auslegen ist eine spannende Sache! Aus der bunten Vielfalt der Methoden wurden hier einige vorgestellt. Es gibt weitere. Ihr gemeinsames Ziel ist, die Bibel als „Heilige Schrift“ und „Buch fürs Leben“ zu erschließen. Wer sich darauf einlässt, macht (hoffentlich) viele gute Erfahrungen mit dem Buch der Bücher!
Zum Weiterlesen
Horst Klaus Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung. München / Stuttgart 1991