„Das Recht ströme wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom!“

Martin Luther King Jr.s Umgang mit der Bibel

Von Matthias Drodofsky  |  Erschienen in HERRLICH 02|2024, Seiten 44-49  |  11:34 MIN   

Es war am Montag, dem 5.12.1955. Der 26-jährige Martin Luther King Jr. eilte von einem wichtigen Treffen nach Hause. Soeben hatten er und etliche Führungspersönlichkeiten der afroamerikanischen Bevölkerung in Montgomery (Alabama) eine lokale Bürgerrechtsgruppe gegründet: die „Montgomery Improvement Association“ (kurz: MIA). Martin Luther King war zum Präsidenten der Gruppe gewählt worden.

Wenige Tage zuvor war die Näherin und Aktivistin Rosa Parks verhaftet worden, weil sie sich geweigert hatte, im Bus einen Sitz für einen weißen Fahrgast freizumachen. Aufgrund der Verhaftung hatte die afroamerikanische Bevölkerung in Montgomery mit organisatorischer Unterstützung durch die „Black Churches“ (Kirchen, die vom afroamerikanischen Teil der Bevölkerung besucht wurden) zu einem Busboykott aufgerufen.

Und siehe da: An besagtem Montag war tatsächlich kaum eine Menschenseele in den örtlichen Bussen anzutreffen. Der Protest, der ursprünglich für einen Tag veranschlagt war, hatte besser geklappt, als die Organisatoren zu hoffen gewagt hatten.

Um jedoch an der bedrückenden Situation alltäglicher Diskriminierung dauerhaft etwas zu verändern, entschied man sich, den Protest zu verlängern. Darum wurde die MIA gegründet. Im Anschluss an die Gründungssitzung sollte eine Versammlung stattfinden, bei welcher Martin Luther King eine Rede halten sollte. Er eilte nach Hause, um in aller Kürze seine Rede vorzubereiten. Trotz seines jungen Alters war er ein geübter Prediger, doch normalerweise bereitete er seine Predigten akribisch und ausführlich vor. Jetzt blieben ihm keine zwanzig Minuten. Schnell machte er sich einige wenige Notizen. Dann fuhr er zur Kirche. Die Kirche war völlig überfüllt. Die Leute standen auf der Straße, um mitzubekommen, was gleich besprochen werden sollte.

Schließlich trat Martin Luther King vor die Menge und begann mit einer denkwürdigen Rede. King sprach über die Rechtmäßigkeit des Protests und die Entschlossenheit, mit der man in Montgomery zu arbeiten und für die gute Sache zu kämpfen gedenke, bis – dann zitierte er eine Bibelstelle aus dem Buch des Propheten Amos – „das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom“. Keinen Vers zitierte er insgesamt so häufig, wie diesen. Auch in seiner berühmtesten Rede „I Have a Dream“ zitierte er diesen Vers.

Gegen Ende der Rede zitierte er einen weiteren Bibelvers, diesmal aus Psalm 46: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin.“ Was in dem Psalm als Zusage an Israel und als Mahnung an die das Land bedrohenden Völker gelesen werden kann, nutzte Martin Luther King Jr. als direkte Mahnung an das Land Amerika. Mit dieser Umdeutung ließ er diese Mahnung im Jetzt aufleben und warnte die Machthaber, dass alle menschliche Macht, gerade auch ungerechte Macht, durch Gott beendet werden kann.

Die Menschen waren tief ergriffen, geradezu begeistert nach dieser Rede. Sie wurde zu einem Startschuss für eine entscheidende Phase der Bürgerrechtsbewegung.

Was hat diese Episode nun mit dem Thema „Bibel“ – und vor allem dem Umgang mit ihren Inhalten – zu tun? Ich glaube, eine ganze Menge! Um das zu erläutern, werfen wir einen Blick auf die Entstehungssituation dieser Rede:

In den Jahrzehnten nach Abschaffung der Sklaverei hatte es im Süden der USA verschiedene Methoden, teilweise durch Gesetze, teilweise durch rassistische Praxis, gegeben, um die African American Teile der Bevölkerung zu benachteiligen. Schulen, öffentliche Einrichtungen, Restaurants, Kirchen u.v.m. waren klar nach Hautfarben getrennt. Schilder, die deutlich machten: „For Whites Only“ oder „For Coloured Only“, markierten gesellschaftliche Grenzen. Die Angebote für die African American Bevölkerung waren dabei durchweg deutlich schlechter. Aufgrund vieler bürokratischer und gesetzlicher Hürden, waren die allerwenigsten African Americans als Wähler registriert und konnten dementsprechend kaum politisch Einfluss nehmen. Wo dies dennoch geschah, waren Einschüchterung und häufig gar tödliche Gewalt (zum Beispiel durch den Ku Klux Klan) an der Tagesordnung.

In dieser gesellschaftlichen Situation hielt Martin Luther King seine Rede. In den wenigen Minuten der Vorbereitung und dann auch während der Rede selbst gelang es King, mehrere Dinge miteinander zu verbinden: Er sprach über die Situation der Menschen, die sich versammelt hatten. Er sprach über die bedrückende Erfahrung des Rassismus und der Diskriminierung. Er sprach aber auch von der Rechtmäßigkeit und Angemessenheit des Protests. Seine Analyse der gesellschaftlichen Situation verband er mit kraftvollen Bildern der Hoffnung. Für diese Hoffnungsbilder griff er auf eindrückliche und bekannte Motive zurück. Viele Zuhörer*innen werden durchaus gewusst und gehört haben, dass in dem zitierten Vers die Stimme des Propheten Amos anklingt: die Stimme eines Propheten, der mit kraftvollen Worten Unrecht und Unterdrückung sozial schwacher Bevölkerungsteile angeklagt hatte. Durch die Art und Weise, in der King diesen Vers hier anklingen lässt, verschmilzt die Ursprungssituation des Textes mit der Situation der Hörer*innen: Die Worte des Amos wurden zu einem Zuspruch für die Hörer*innen (und nicht nur für die Israeliten damals!). Die biblischen Texte auf so direkte Weise mit seiner Gegenwart und der Gegenwart seiner Hörer*innen in Beziehung zu setzen, war durchaus typisch für King.

Martin Luther Kings Ansatz, die Bibel zu interpretieren, lässt sich gut anhand der folgenden vier Punkte erläutern (in der folgenden Ausführung stütze ich mich besonders auf Keith D. Miller: Martin Luther King´s Biblical Epic. His Final, Great Speech, University Press of Mississippi, 2012).

Erstens: Martin Luther King wählte eine bestimmte Richtung der Bibelinterpretation. Seit der Aufklärung gab es ein großes Interesse daran, die biblischen Texte historisch-kritisch zu verstehen. Eine rein historische Untersuchung der Texte (also die Ausrichtung einzig auf die Frage, was die Texte damals bedeutet haben mögen) findet man bei King nicht. Für ihn gab es eine entscheidende Frage, die er an biblische Texte stellte: „What does the Bible offer to opressed people?“ (Keith D. Miller). Frei übersetzt: „Welche gute Botschaft bietet die Bibel unterdrückten Menschen?“ Diese Frage war, so könnte man das sagen, eine Art „Lesebrille“, mit der Martin Luther King die Texte der Bibel las und predigte.

Zweitens:Martin Luther King betonte die Wichtigkeit des Alten Testaments und der jüdischen Tradition für das Verständnis der Bibel. Das mag beinahe selbstverständlich klingen, war es damals aber nicht. Häufig wurde damals die so genannte „Ersetzungstheologie“ vertreten, also die Vorstellung, das Alte Testament bzw. das Judentum sei eine Art „religiöse Vorstufe“, welche durch das Christentum abgelöst worden sei. Bei diesem theologischen Ansatz werden weniger die Gemeinsamkeiten und Bezüge der beiden Testamente betont, sondern vielmehr die Unterschiede herausgearbeitet – mit dem Anliegen, die Überlegenheit des Neuen Testamentes zu beweisen. Antisemitische Vorurteile und die Ideologie der „White Supremacy“ erhielten durch diese theologische Ausrichtung Auftrieb.

King hingegen sprach häufig über Themen des Alten Testaments: über Mose, den Auszug aus Ägypten und die Propheten. Gerade der Bezug zum Auszug aus Ägypten verbindet den christlichen Glauben mit der Erfahrung von Sklaverei und Befreiung. Ein Glaube, der sich mit der Geschichte der Sklavenbefreiung aus Ägypten verbunden weiß, wird nicht selbst für Sklaverei argumentieren können. In seinen Predigten konnte Martin Luther King seinen Hörer*innen das Gefühl vermitteln, gerade selbst einen „Auszug aus Ägypten“ zu erleben.

Drittens: Martin Luther King vertrat eine dialogische Interpretation der Bibel. Schon in der Bibel werden Texte gegenseitig interpretiert und intertextuelle Referenzen (ein Text nimmt auf einen anderen Bezug) hergestellt. Wenn King also die Texte auf die gegenwärtigen Situationen der Bürgerrechtsbewegung hin deutete, trat er mit ihnen in einen Dialog. Er erklärte, deutete und erzählte mit Hilfe der Bibel die aktuelle Situation und mit Hilfe der aktuellen Situation erklärte, deutete und erzählte er die Bibel. Dabei setzte er voraus, dass die Geschichten der Bibel helfen, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu verstehen. Die biblischen Geschichten helfen, das Leben zu verstehen und – im Umkehrschluss – das Leben hilft, die biblischen Texte zu verstehen.

Viertens: Martin Luther King interpretierte den Gott der Bibel als einen Gott der Gerechtigkeit und Freiheit. Der Glaube, dass Gott Freiheit und Gerechtigkeit schafft, inspirierte King dazu, konsequent das Ende von Rassismus, Krieg und Armut zu fordern, obgleich all diese Anliegen völlig utopisch erscheinen mögen (auch damals schon). Doch für King stand hinter all diesen Bildern und Hoffnungen ein Gott, der sich unbedingt für Recht und Gerechtigkeit und Freiheit einsetzt und ebenso unbedingt auf der Seite der Armen, Schwachen und Unterdrückten steht.

Der Glaube an diesen Gott war für King kein theologisches System, keine bloße Idee, sondern gelebte Geschichte und erlebte Geschichten.

 

Ich glaube, von Kings Umgang mit der Bibel kann einiges gelernt werden. Hier in aller Kürze einige Bemerkungen dazu:

Martin Luther King gelang es, die Ungerechtigkeit dieser Welt in den Blick zu nehmen und sie mit Hilfe der biblischen Texte zu interpretieren. Die Bibel spricht an vielen Stellen von Ungerechtigkeit, kritisiert diese und ruft zur Gerechtigkeit auf. Diese Worte können eine neue, stärkere Kraft bekommen, wenn es gelingt, sie auf die Ungerechtigkeiten der Gegenwart hin auszulegen.

Tatsächlich verstand King die Bibel nicht als dogmatische oder historische Abhandlung, sondern als Geschichten, in die wir Menschen hineingenommen sind. Wichtig ist: Es geht bei King nie nur um die Frage der persönlichen Erlösung! Der Blick ist immer weit ausgerichtet.

Die Kraft für Veränderung muss dabei nicht aus uns selbst kommen. Für King war der Antrieb, Gott auf seiner Seite zu wissen. Deswegen konnte er vollmundig auf die großen Hoffnungsbilder der Bibel verweisen.

 

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sprach (allerdings erst nach Kings Tod) davon, dass die Interpretation nicht einfach eine Reproduktion, sondern selbst eine Produktion ist. Durch die Art und Weise, wie Martin Luther King die biblischen Texte konsequent auf die Herausforderungen seiner Gegenwart hin auslegte und deutete, reproduzierte er nicht einfach den vermeintlichen historischen Sinn, sondern bewegte Menschen, sich aller Gefahr zum Trotz für das Gute einzusetzen. So wie damals am 5.12.1955, als er rief: „Wir sind entschlossen (…) zu arbeiten und zu kämpfen, das Recht strömt wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein mächtiger Strom.“