Im Hören wird das Wort „Wort Gottes“
Von Carl Heng Thay Buschmann | Erschienen in HERRLICH 02|2024, Seiten 28-31 | 11:34 MIN
Eine der gängigsten Empfehlungen in Predigten und im Bibelunterricht ist nach meiner Erfahrung: „Lies die Bibel!“ Eigentlich eine gute Empfehlung! Es ist Ausdruck eines selbstständigen Glaubens, sich selbst zu informieren und den eigenen Glauben nachzuempfinden.
Trotzdem ist es eine wichtige Erkenntnis, dass das ein sehr neues Phänomen ist, dass wir überhaupt alle zu Hause unsere Bibel lesen können. Erst im 19. Jahrhundert konnten weite Teile der Bevölkerung in Europa lesen. Viele Generationen von Christ:innen haben die Bibel nie – wie wir – in der Hand gehabt, zum Bibelunterricht mitgebracht und selbstständig gelesen. Vielmehr waren sie abhängig von Vorlesenden oder Predigenden.
Abhängigkeiten haben einen hierarchischen Unterton, im Sinne von: „Wer lesen kann, ist klar im Vorteil“. Sie können aber auch Ausdruck von Solidarität und einer voneinander abhängigen Gesellschaft sein. Dabei gilt es aber, die Verantwortung der Vorlesenden zu reflektieren. Auch das Vorlesen und das Zuhören haben ihre Vorteile. Wir wollen dem Hören einmal etwas Aufmerksamkeit zuwenden.
Das Evangelium wurde zuerst gehört und nicht gelesen
Zur Zeit Jesu konnten die wenigsten Menschen lesen. Der Neutestamentler Ulrich Luz geht deswegen für das Neue Testament nicht von einer „Lesendenschaft“, sondern einer „Zuhörendenschaft“ aus. Die Texte, die wir im zweiten Teil der Bibel finden, waren vor allem erstmal Rede und Zuhören.
Zuhören ist eine tragische Angelegenheit, zumindest, wenn es mit dem Lesen verglichen wird. Hören selektiert. Beim Zuhören drifte ich ab, werden mir bestimmte Sachen wichtig, ich bleibe beim Zuhören „hängen“. Und beim Zuhören kann ich nicht „zurückspulen“!
Ist also die Art und Weise, wie die ersten Gemeinden der Christ:innenheit die Bibel wahrgenommen haben, defizitär und fehlerhaft? Vielleicht können wir uns auf eine Entdeckungsreise machen, das Hören neu wertzuschätzen und zu schauen, ob sich hier nicht vielleicht ein Schatz unserer christlichen Tradition findet!
Die ersten Christ:innen hatten ganz andere Probleme. Sie haderten damit, ihre Erlebnisse mit Christus aufzuschreiben!
Irritiert? Ein Großteil des zweiten Teils der Bibel waren doch Briefe, die natürlich aufgeschrieben wurden. Das heißt aber nicht, dass alle in der Gemeinde diese Briefe zu Hause gelesen haben. Sie wurden in der Versammlung verlesen (1. Thess 5,27, Kol 4,16).
Die Evangelien kamen erst nach den Briefen, denn die ersten Christ:innen waren überzeugt, dass die Botschaft Christi lebendige Zeug:innen braucht. Menschen, die Jesus erlebt haben. Dieses Zeugnis war effektiver, wenn es die Menschen selbst erzählten: News aus eigener Hand mit eigenen Erfahrungen! Das geschriebene Wort ist tot. Es spricht einen nicht an, wie mündliche Rede. Hier sind die Zeug:innen nicht mehr erlebbar. Die Verschriftlichung der Evangelien war dann eher ein letzter Ausweg: Die Augenzeug:innen der Heilsgeschichte um Jesus starben aus, sodass ihre Erfahrungen verschriftlicht werden mussten.
Es bleibt aber wichtig zu vermerken: Die ersten Personen, die sich zu Jesus bekehrten, hatten nicht von Jesus gelesen, sondern durch Menschen, die von ihm begeistert waren, von ihm gehört. Dieser Gedanke, dass die Botschaft Gottes vor allem im Modus der mündlichen Rede lebendig ist, hat sich noch lange gehalten. Auch in der Reformation: Für Luther, dem selbst die Bibelübersetzung ein Anliegen war, war das Evangelium primär ein Schrei, eine Botschaft, ein lebendiges, mündliches Wort.
Was macht das Wort dann aber zum Wort Gottes?
Der Grund, warum Luther das mündliche Wort vorzog, war, dass das Evangelium nicht nur eine Lehre ist, sondern die Liebe und Gnade Gottes, die Menschenherzen erreichen will. Woher und warum kommt es aber zu diesem Vorzug der mündlichen Rede? Ist die Bibel nicht Wort Gottes?
Hierfür hilft es erstmal zu reflektieren, wann wir von „Wort Gottes“ reden wollen. Das Wort Gottes begegnet uns in Joh 1 personifiziert in Jesus Christus. Jesus ist also das Wort Gottes im personalen Sinne. Aber auch die Botschaft Jesu vom Reich Gottes – das Evangelium – ist Wort Gottes. Das Evangelium will gehört werden.
„Hören“ ist dabei vielleicht noch etwas zu weit. Wir können ja auch „zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus“ hören. Wenn das Evangelium gehört wird, dann ist es nicht wie in der Schule, dass es vom Mund der Lehrkraft ins Notizbuch oder in den internen Wissensspeicher wandert, sondern das Wort Gottes wird erst dann richtig verstanden, wenn es unser ganzes Leben umkrempelt. Das Wort Gottes will Herzen berühren. Erst dann wird es sachgemäß gehört. Für den Theologen Wilfried Härle ist die Begründung der Autorität der Bibel z. B. die efficacia, die Wirksamkeit der Bibel. Dass die Bibel Glauben weckt, das macht ihre Relevanz aus.
So glauben wir nicht an die Bibel als „Wort Gottes“, sondern dass in ihr das Wort Gottes in Jesus Christus vorkommt und sie das Potential hat, ein Wort Gottes zu werden.
So muss die Bibel gepredigt werden! Sie muss im Modus der Ansprache formuliert und mit persönlichen Erfahrungen angereichert werden. Eine gute Predigt übermittelt Begeisterung, spricht die Menschen im doppelten Sinne an und ist nach einem Bild Luthers wie ein Feuerzeug, das das Feuer des Evangeliums in den Menschenherzen entfacht.
Was ist der Unterschied von Hören und Lesen?
Hören ist ein Ereignis! Ich kann dieses Ereignis nicht zurückspulen. Selbst, wenn ich einen Podcast zurückspule, höre ich ihn dennoch „auf einem anderen Ohr“. (Kennt ihr das auch, wenn ihr Freund:innen Reels zeigt, dass sie beim zweiten Schauen viel schneller sind?). Die Hörerfahrung ist irreversibel. Das Hören hat mit Aufmerksamkeit zu tun. Wie sehr bin ich da? Wie viel Konzentration bringe ich auf? Beim Hören kann ich nicht wieder hören, nicht nochmal nachlesen, nicht wiederholen, was ich verpasst habe.
Außerdem wird beim Hören nochmal deutlicher als beim Lesen, dass die Art und Weise, wie ich etwas verstehe, immens von mir und meinen Erfahrungen geprägt ist: „Mensch hört, was mensch will ...“ Hören ist also auf die Anwendung auf unseren Kontext spezialisiert. So braucht es gerade hier, dass wir auch auf andere Menschen und ihr Verständnis hören, um unsere begrenzte Perspektive zu erweitern.
Im Hören wird deutlich, was durch das Lesen nur implizit deutlich ist: Jemand spricht mich an! Jemand erzählt mir etwas! Im Hören begegnet mir eine andere Person. Hören ist ein Beziehungsgeschehen. Die ersten Christ:innen haben die Bibel gemeinsam gehört. Danach wurde vermutlich über die Texte und die Hörerlebnisse gesprochen.
Beim Hören sind wir auch nicht allein: Der Heilige Geist ist mit dabei! Ich glaube, dass wir Wort Gottes hören, aufnehmen und verstehen, ist geleitet durch das Wirken des Heiligen Geistes (Joh 14,26; 1. Kor 12,3). Der Heilige Geist ist gerade in unserem Hören, in unserer Rezeption, in unserem Empfang aktiv und zeigt und leitet uns in das, was gerade wichtig ist (Röm 8,5.14).
Was bedeutet das praktisch?
... für unsere Wahrnehmung der Bibel
Weder die Bibel an sich noch unsere Lehre anhand der Bibel ist „Wort Gottes“. Die Bibel ist das Medium des Wortes Gottes. Sie weist auf Jesus Christus als Wort Gottes hin und kann im Hören Wort Gottes für uns sein. Wir müssen die Bibel dabei erzählen und hören. Dadurch wenden und übertragen wir die Bibel automatisch in unseren (Lebens-)Kontext.
Das ist ein geistgeleiteter Prozess, auf den wir uns einlassen müssen. Darüber ist das Studium der biblischen Texte nicht zu vergessen. Es bleibt relevant und ein wichtiges Korrektiv für unsere Gotteslehre. Es ist aber entscheidend zu erkennen, dass die Bibel auch effektiv Wort Gottes sein kann.
Praktisch umgesetzt habe ich das in den letzten Jahren meines Theologiestudiums in einer wöchentlichen Andacht mit meinem Studienjahrgang. Wir haben zusammen Bibel gehört: Eine Person hat den Text vorgelesen (mitlesen war strengstens verboten!). Danach wurde darüber geredet (nachträgliches Nachlesen ebenfalls verboten!). Der Bibeltext erscheint so noch einmal ganz anders! Wir haben uns viel weniger über Wortklaubereien gestritten, sondern sind auf eine viel persönlichere Glaubensebene gekommen. Es war ein intuitiverer Austausch, aus dem ich viel gelernt habe.
... für Gespräche über den Glauben
Wenn wir das Wort Gottes hören und verstehen, verbindet es sich mit unserem ganzen Leben, mit unseren Erfahrungen, Wunden und Talenten. Glaube braucht und trifft immer das ganze Leben!
Auch wenn wir über unseren Glauben reden, können wir aus diesem Verstehen der Bibel, aus dem Hören, mitnehmen, dass wir mit Hörenden arbeiten. So können wir unser Gegenüber mit unserem Glauben und unseren Erfahrungen ansprechen. Unser Zeugnis vom Glauben überzeugt, wenn es „ansprechend“ ist und in liebender Demut geschieht.
Zu viele selbstbestimmte und selbstbewusste Argumente, die gewaltsam versuchen, das Gegenüber zu übertrumpfen, verlieren gegen das Wort Gottes als heilsame Ansprache, die wir unserem „Nächsten gönnen“ können.