It is well with my soul.

Selbstfürsorge und mentale Gesundheit

Von David Bunce und Sam Mail  |  Erschienen in HERRLICH 01|2025, Seiten 12-17  |  Lesezeit: 8:57 Min

„It is well with my soul“ – Diese Worte aus dem bekannten Lied von Horatio Spafford (1828-1888), das vor fast 150 Jahren geschrieben wurde, berühren auch heute noch viele Herzen. Sie klingen wie ein leiser, aber fester Ausdruck von Frieden, den man sich inmitten von Herausforderungen und Leid wünscht.
Doch was bedeutet es wirklich: „Es ist wohl mit meiner Seele“? Wie können wir in einer Welt, die von Stress, Ängsten und psychischen Belastungen geprägt ist, diesen inneren Frieden finden?
Besonders in einer Zeit, in der mentale Gesundheit zunehmend ins öffentliche Bewusstsein rückt, stellt sich die Frage: Kann der Glaube an Gott uns tatsächlich helfen, eine „wohlige Seele“ zu bewahren, selbst wenn die Wellen des Lebens hochschlagen?
In der Bibel finden wir immer wieder die Einladung, Gott unsere Sorgen und Ängste zu überlassen und in ihm Ruhe zu finden. Doch die Realität vieler Menschen, die mit psychischen Herausforderungen kämpfen, sieht oft anders aus. Angst, Depression, Überforderung und der Druck, „perfekt“ zu sein, sind alltägliche Begleiter für viele junge Menschen. Wie kann der Glaube an einen guten und treuen Gott inmitten dieser Unsicherheiten Halt geben? Wie können wir als Christen mit den dunklen Seiten unseres Lebens umgehen, ohne unseren Glauben zu verlieren? Und vor allem: Was bedeutet es, inmitten der inneren Stürme zu sagen: „It is well with my soul“?

Mentale Gesundheit und ich

„Geht’s nur mir so?“ – Diese Frage stellen sich viele von uns, wenn wir mit eigenen psychischen Herausforderungen konfrontiert sind. Oft fühlen wir uns inmitten des ständigen Drucks und der Anforderungen des Lebens allein, erschöpft oder überfordert. Aber geht es wirklich nur uns so? Wie passt das alles zusammen mit unserem Glauben? Kann ein Christ / eine Christin, die / der mit Depressionen oder Angstzuständen kämpft, immer noch ein treuer Nachfolger / eine treue Nachfolgerin Jesu sein? Und vor allem: Wie gehen wir mit den Herausforderungen der mentalen Gesundheit um, ohne uns dabei selbst zu verlieren?
Die Wahrheit ist: Du bist nicht allein. Viele Menschen – auch Christ*innen – kämpfen mit den gleichen Fragen und Herausforderungen, auch wenn sie nach außen hin oft nicht sichtbar sind. In der Vergangenheit gab es viele Missverständnisse und Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen. Heute jedoch erkennen immer mehr Menschen, dass psychische Gesundheit genauso wichtig ist wie körperliche Gesundheit und dass unser Glaube nicht nur in den guten Zeiten stark ist, sondern auch in den Momenten der Schwäche und Anfechtung.

Depression und Jesus

„Kann man depressiv und trotzdem ein treuer Christ / eine treue Christin sein?“ – Diese Frage mag provokant wirken, aber sie ist für viele von uns von tiefem Interesse. In vielen christlichen Gemeinschaften gibt es die Vorstellung, dass ein wahrer Nachfolger / eine wahre Nachfolgerin Jesu niemals von negativen Gedanken oder Stimmungen betroffen sein sollte. Doch der Glaube an Jesus bedeutet nicht, dass wir in einer heilen, perfekten Welt leben oder dass wir vor Schmerz und Leid verschont bleiben.

Jesus selbst litt unter schwerem inneren Schmerz. In Matthäus 26,38 spricht er: „Meine Seele ist sehr betrübt, bis an den Tod.“ Selbst der Sohn Gottes fühlte sich tief von Kummer erdrückt. Depression ist keine Sünde. Es ist eine menschliche Erfahrung, der auch Christ*innen nicht entgehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir in dieser Situation allein sind. Gott ist mit uns – in den Höhen und Tiefen des Lebens. Er lädt uns ein, ihm unsere Sorgen und Ängste zu übergeben und in ihm Ruhe zu finden.

Selbstfürsorge

In einer Welt, die oft von uns verlangt, immer mehr zu leisten, ist es entscheidend, zu wissen, wann wir eine Pause brauchen. Selbstfürsorge ist ein Schlüssel, um inmitten von Stress und Belastung eine innere Balance zu finden. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Grenzen zu setzen und sich die nötige Zeit für Erholung zu nehmen.

Entspannungstechniken wie Achtsamkeit oder tiefe Atemübungen können dabei helfen, den Geist zu beruhigen und neue Energie zu schöpfen. Aber auch einfach mal „nein“ zu sagen und sich von stressigen Situationen zu entfernen, kann dabei helfen, wieder klarer zu denken und sich selbst zu finden.

Therapie und Medikamente

Ein weiteres Thema, das immer wieder zu Diskussionen führt, ist die Frage, ob es mit dem christlichen Glauben vereinbar ist, Antidepressiva zu nehmen oder Therapie in Anspruch zu nehmen. In einigen Kreisen gibt es den Glauben, dass der Glaube allein ausreicht, um psychische Probleme zu heilen.

Doch die Realität zeigt, dass Depressionen und Angstzustände oft tiefere Ursachen haben, die nicht einfach durch Gebet oder positive Gedanken beseitigt werden können. Medikamentöse Behandlung und Therapie sind keine Zeichen von Schwäche, sondern eine gesunde, praktische Reaktion auf reale Herausforderungen.

Genauso wie wir bei körperlichen Beschwerden einen Arzt aufsuchen, können wir auch in schwierigen Zeiten der Seele Unterstützung suchen. Glaube und Therapie schließen sich nicht aus, sondern können Hand in Hand gehen, um uns Heilung und Hilfe zu bringen.

Dürfen Christen traurig sein?

Ja, Christen dürfen traurig sein. In einer Welt, die uns oft zu einem unaufhörlichen Lächeln und Perfektion drängt, ist es wichtig, zu verstehen, dass Traurigkeit und Verlust Teil des menschlichen Lebens sind. Diese negativen Emotionen sind keine Zeichen von Glaubensschwäche, sondern ein natürlicher Bestandteil unseres Erlebens.
Auch die Bibel ist voll von klagenden Psalmen, in denen Menschen ihre Trauer und ihren Schmerz vor Gott bringen. Und Gott hört zu. Er ist der Gott, der uns in unseren tiefsten Momenten sieht und uns dort begegnen möchte.

Angst und Traurigkeit sind keine Feinde des Glaubens, sondern Teil unseres emotionalen Prozesses. Sie sind oft sehr rationale Antworten auf die Herausforderungen des Lebens. Sie zeigen uns, dass wir Menschen sind, die sich um sich selbst und die Welt um sie herum kümmern. Sie sind keine Schwäche, sondern eine Einladung, uns Gott zuzuwenden und in ihm Trost zu finden.

Inmitten der Stürme des Lebens können wir lernen, zu sagen: „Es ist wohl mit meiner Seele.“ Aber das bedeutet nicht, dass wir den Schmerz leugnen oder ihn allein bewältigen müssen. Der Glaube bietet uns die Kraft, auch in den dunkelsten Momenten des Lebens zu vertrauen – auf Gott, der uns nie verlässt, auch wenn wir uns allein fühlen.
Gemeinsam sind wir weniger allein

Gemeinschaft ist oft eine wesentliche Hilfe und Ressource, auch für Menschen, die mit mentalen Gesundheitsherausforderungen zu tun haben. Manchmal hat man bei Depression, Angststörungen oder Ähnlichem den Eindruck, dass man ganz allein in der Situation ist. Aber das ist eben nicht der Fall.

Im Neuen Testament spricht Paulus in 1. Korinther 12 von der Gemeinde Gottes als einem Körper mit verschiedenen Gliedern. Das Bild kennst du vielleicht aus der Sonntagsschule. Es ist spannend zu sehen, wie er darüber schreibt: nämlich, dass wir wirklich alle Teile brauchen. Oft, wenn wir über Körperteile reden, feiern wir bestimmte Teile mehr als andere. Jemand wird schnell gelobt für sein schönes Gesicht oder seine netten Haare oder was auch immer. Das kann sogar in eine negative Richtung wie Bodyshaming kippen. Aber es kommt nicht so besonders häufig vor, dass jemand aufgrund seiner Milz oder Bauchspeicheldrüse gefeiert wird. Doch in der Gemeinde soll es eben anders sein. Paulus schreibt sogar, dass die Teile, die vielleicht als schwächer betrachtet werden, notwendiger sind. Das ist eine feine Umstellung unserer normalen Ideen von Status und Stellenwert.

Was hat das alles mit mentaler Gesundheit zu tun? Eben das: Als Gemeinde Gottes haben wir den Auftrag, einander zu tragen und vielleicht besonders die Menschen, die wir als „schwach“ bezeichnen würden. Und wenn wir uns in einer bestimmten Situation als schwach betrachten, dürfen wir uns tragen lassen.

Das bedeutet manchmal, dass wir kreativ sein müssen, wie wir unser Miteinander leben. Manchmal müssen wir als Gemeinschaft langsamer gehen oder bewusst einer Person mit Depression nachgehen, um diese Person wirklich einzubinden. Das fordert Zeit, Energie und die Bereitschaft, einige Programme und Angebote umzudenken. Der japanische Theologe Kosuke Koyama schreibt in seinem Buch Three Mile an Hour God (1980), dass Jesus nur in Schrittgeschwindigkeit gegangen ist – und dass dies die Geschwindigkeit der Liebe ist.
Genau das ist unser Auftrag als Gemeinde Gottes! Wir übernehmen nicht einfach die Normen der Gesellschaft. Bei uns gelten andere Normen.

Wir haben oben gesagt, dass manche Reaktionen nachvollziehbar sind. Wenn eine Person etwas besonders Traumatisches oder Heftiges erlebt hat, ist eine Angstreaktion verständlich. Ähnlich ist es bei einer Person, die autistisch ist und in einer Welt leben muss, die nicht für sie gestaltet ist. Wir können diese äußeren Kontexte oft nicht ändern. Aber wir können zumindest unser gemeinsames Leben so gestalten, dass in der Gemeinde Platz für solche Menschen ist. Wir können traumasensibel unterwegs sein, Themen wie mentale Gesundheit ansprechen und unsere Gemeinden so gestalten, dass es Raum für Menschen mit unterschiedlichen Neurodiversitäten und mentalen Herausforderungen gibt. Damit können wir hier zumindest einen sicheren Raum anbieten. Das ist für uns eine Auswirkung dessen, was Paulus in 1. Korinther 12 schreibt.

Wo ist Gott in allem?

Mentale Gesundheit und Glaube – das ist ein Thema, das für viele von uns schwer fassbar und oft mit widersprüchlichen Gefühlen besetzt ist. Wenn du gerade mit einer psychischen Erkrankung kämpfst oder dich überfordert fühlst von den Anforderungen des Lebens, dann ist es verständlich, dass die Frage „Wo ist Gott in allem?“ auftaucht. Denn in Momenten der Dunkelheit kann es schwer sein zu spüren, dass Gott noch da ist. Es ist, als ob wir in einem tiefen, dunklen Tal stehen und das Licht der Hoffnung nur noch schwach flimmert. In solchen Momenten sind wir vielleicht geneigt zu denken: „Wo ist Gott? Warum scheint er so fern?“
Das ist eine schwierige Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. Oft reicht es nicht, einfach „zu glauben, dass er da ist“, weil wir inmitten des Leids die Worte des Trostes nicht spüren können. Als Christ*in mit einer stabilen psychischen Gesundheit mag es leicht sein zu sagen, dass Gott immer bei uns ist. Aber wenn wir inmitten von Angst, Depression oder überwältigendem Stress stecken, ist es ganz natürlich, sich von Gott entfernt zu fühlen. So sehr wir uns bemühen, uns an die Wahrheit zu erinnern, dass Gott treu ist, kommt in manchen Momenten der Frage nach seiner Nähe eben nur das Echo der Stille.
Und doch gibt es in der Bibel viele Geschichten, die uns auf eine andere Weise begegnen. Sie sind kein einfacher Trost, keine einfachen Antworten, aber sie zeigen, dass der Glaube an Gott nicht heißt, dass wir in einem Leben ohne Schmerz leben müssen. Im Gegenteil: Die Bibel ist voll von klagenden Psalmen, von Gebeten, die Gott alles andere als in einem positiven Licht darstellen. Ein solcher Psalm ist Psalm 88, in dem der Beter von einer Dunkelheit spricht, die ihn „bis in die Finsternis“ zieht. Selbst Jesus, am Kreuz, ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Er, der mit seinem ganzen Sein von Gottes Nähe erzählt, muss selbst erfahren, wie es ist, Gottes Abwesenheit zu erleben.
Vielleicht ist gerade dieses „Warum“ wichtig für uns. Es erinnert uns daran, dass wir in unseren schweren Momenten nicht „falsch“ sind, wenn wir uns von Gott verlassen fühlen. Die Bibel gibt uns Raum für solche Fragen und zeigt uns, dass wir mit all unseren Gefühlen zu Gott kommen dürfen – auch mit denen, die uns peinlich oder unangemessen erscheinen mögen. Vielleicht ist es gerade in diesen Momenten, in denen wir das Gefühl haben, allein zu sein, dass Gott uns ganz nahe ist. Denn er hört zu, auch wenn wir nicht immer sofort eine Antwort auf unsere Fragen erhalten.

Einen kleinen Lichtblick inmitten der Dunkelheit finden wir in den Klageliedern. Inmitten der anhaltenden Klage, des Leids und der Dunkelheit entdecken wir einen Hauch von Hoffnung. In Klagelieder 3,22-23 heißt es: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht umkommen; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Sie ist jeden Morgen neu.“ In einem Buch, das größtenteils vom Schmerz handelt, finden wir plötzlich ein „Dennoch“, einen Moment des Hoffens, dass die Dunkelheit nicht das letzte Wort hat. Es ist der Moment, in dem wir mit all unseren Sorgen und Ängsten zu Gott kommen dürfen, ohne uns verurteilt oder abgewiesen zu fühlen. In diesem „Dennoch“ erkennen wir, dass wir, so wie wir sind, in seiner Nähe willkommen sind.

In unseren herausforderndsten Momenten ist es vielleicht nicht der klare und sofort spürbare Trost, der uns hilft, sondern die Erkenntnis, dass das Leben ein Geschenk ist – mit all seinen Höhen und Tiefen. Das bedeutet nicht, dass wir den Schmerz leugnen oder unsere Ängste einfach wegwischen sollen. Aber es erinnert uns daran, dass auch die schwierigsten Zeiten Teil eines größeren Ganzen sind. Gott ist der Ursprung allen Lebens, und unsere rationalen Antworten auf unsere Ängste oder unser Leid müssen nicht das letzte Wort haben. Die Dankbarkeit, die sich im „Dennoch“ verbirgt, ist nicht eine Flucht vor der Realität, sondern die Erkenntnis, dass Gott uns immer noch umgibt – auch wenn wir es nicht immer spüren.
In Momenten der Unsicherheit und des Zweifels ist es daher hilfreich, nach „Ankern“ zu suchen – nach festen, sicheren Punkten, die uns helfen, nicht völlig abzustürzen. Diese Anker sind nicht nur äußere Faktoren wie Familie oder Freund*innen, sondern vor allem unser Glaube, der uns erinnert, dass Gott der Ursprung und die Quelle alles Guten ist. Unsere Gefühle und Gedanken sind real, aber sie sind nicht die letzte Wahrheit. Wenn wir uns an das „Dennoch“ halten, das uns die Bibel vor Augen führt, dann können wir in der Dunkelheit auf das Licht hoffen – auch wenn es nur ein kleiner Schimmer ist.

Schließlich geht es darum, uns bewusst zu machen, dass Gott selbst in den tiefsten Tälern des Lebens bei uns ist. Das bedeutet nicht, dass wir jede Frage sofort beantwortet bekommen oder alle Sorgen weggenommen werden. Aber es bedeutet, dass wir nicht allein sind. Wie ein Anker uns im Sturm hält, so hält uns auch der Glaube an einen treuen Gott, der uns nicht verlässt. Und in diesem Vertrauen können wir sagen: „Es ist wohl mit meiner Seele“ – auch wenn es im Moment noch nicht danach aussieht. 
 

David Bunce

David Bunce ist Pastor der Baptistengemeinde Bad Ischl und leitet das Kinder- und Jugendwerk des österreichischen Baptistenbundes. Er ist Engländer, der nach dem Brexit in Europa hängen geblieben ist. Er kocht gerne Curry und kauft zu viele Bücher, die er (versprochen!) eines Tages auch lesen wird. Er hat eine Leidenschaft für Reich Gottes, Gemeinde als eine multigenerationelle Missionsgemeinschaft und Essig auf Pommes.  

Sam Mail

Sam Mail ist Pastorin und arbeitet als Referentin für die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Gemeindejugendwerk. All das und ihre eigenen Teenager zu Hause halten sie auf Trab und füllen ihr Herz. Die gebürtige Berlinerin, die mehr als 15 Jahre in England gelebt hat und mittlerweile in Potsdam wohnt, liebt Jesus, Schwimmen im See und British Stand Up Comedy.