Nefesch und Psyche.

Wie die Bibel von der Seele spricht

Von Anja Bär und Lea Herbert  |  Erschienen in HERRLICH 01|2025, Seiten 12-17  |  Lesezeit: 6:21 Min

 „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“ – so betet der Beter des Psalm 62. Ich (Anja) kann mich mit diesem Gebet verbinden, ich „relate“, wie man heute sagt. Das mit der „Seele“ scheint mir irgendwie unbewusst klar zu sein. Die Seele ist das, was mich zu dem Menschen macht, der ich bin, und zugleich mit der Gewissheit ausstattet, Kind Gottes zu sein. Aber stimmt das auch?

Das Wort „Seele“ in der Bibel
Das Wort „Seele“ findet sich in der Bibel (je nach Übersetzung) 622 mal, davon in der Hebräischen Bibel (dem Alten oder Ersten Testament der Christen) 560 mal und in der griechischen Bibel (dem Neuen oder Zweiten Testament der Christen) 62 mal. 
Am häufigsten taucht das Wort „Seele“ in den Psalmen auf (134 mal)1. Wunderschön erzählt die Liebende im Hohelied:

„Des Nachts auf dem Lager suchte ich,
den meine Seele liebt.“ (Hld 3,1).

Und im 1. Buch Mose fordert Isaak seinen Sohn Esau auf, ihm ein (letztes) Mal ein Essen zuzubereiten, wie er es mag,  „ehe seine Seele ihn segnen würde“ 
(1 Mose 27,4).
In den Psalmen sind es die Stellen, die „unter die Haut“ gehen, wenn die Seele genannt wird:

„Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
so schreit meine Seele, Gott, zu dir“ (Ps 42,2).

Oder in Psalm 103,1:

„Lobe den Herrn, meine Seele,
und was in mir ist seinen heiligen Namen.“


In der griechischen Bibel wird das Wort „Seele“ deutlich weniger verwendet. Berühmt ist das Magnifikat (Lk 1,46-55). Maria singt dieses Lied im Moment des Verstehens: Gott lässt ihr eine ganz besondere Aufgabe zuteilwerden. Sie wird einen Sohn empfangen, austragen und gebären. Er wird der Sohn Gottes genannt werden. Sie singt:

„Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.“ (Lk 1,46)

Das hebräische Wort Nefesch wird in der griechischen Fassung des ersten Testaments (Septuaginta) mit psychê wiedergegeben2
Ein Beitrag von Rabbiner Dr. Tom Kučera von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München macht noch auf einen weiteren Begriff aufmerksam: Neschama.
Neschama ist eine Art „Erweiterung der Seele“ zu besonderen Anlässen: Wenn die jüdische Gemeinde Schabbat feiert, wird der Mensch von dieser Neschama erfüllt. Am Ende des Schabbats verlässt sie ihn wieder.3

Für unser Nachdenken zum Thema „Seele“ konzentrieren wir uns auf den hebräischen Ausdruck Nefesch und streifen das griechische Wort psychê. 

Nefesch und Psyche

Die Seele, das ist ein Begriff, der durch die Zeitalter mit uns geht, der immer wieder neu gedeutet und gefüllt wird und doch eine Größe ist, die nicht zu greifen ist, der man sich höchstens nähern kann. Immerhin glauben einer repräsentativen Studie zufolge 40 Prozent der Deutschen an die Existenz einer Seele4. Und doch ist es immer ein „Rantasten“, ein Versuch, zu erklären, was es mit der Seele auf sich hat.

Zunächst eine kleine Wortstudie zum Begriff Nefesch5:
Das hebräische Wort Nefesch hat eine große Bandbreite an Bedeutungen. In der deutschen Sprache gibt es keine Entsprechung. Es kommt etwa 755 mal im Alten Testament vor. Der Kontext entscheidet, welche Übersetzung von Nefesch Sinn ergibt.
Es wäre demnach zu kurz gesprungen und irreführend, Nefesch immer mit „Seele“ zu übersetzen. Hinzu kommt, dass in der hebräischen Dichtung Begriffe wie beispielsweise „Seele“ und „Geist“ austauschbar sind. Nach alttestamentlichem Verständnis ist der Mensch Nefesch. Dies ist nach unserem Verständnis der erste Schlüssel, um sich an den Terminus Nefesch heranzutasten. In Genesis 2,7 wurde der Mensch zu lebendiger Nefesch. Das Wort beschreibt den Menschen in seiner gesamten Gestalt mit seinem Atem.
Zum Wortspektrum von Nefesch gehört der Rachen (die Kehle, der Schlund) als Organ mit seinen Primäraufgaben des Atmens und des Schluckens. Durst, Wasser und Nefesch gehören im Alten Testament häufiger zusammen. Die Nefesch dürstet und schmachtet nach Wasser, nach Gott usw.
Nefesch kann auch den Hals meinen. Wenn die Wasserfluten bis an die Nefesch gehen, wird die Gefahr des Ertrinkens beschrieben. Wir kennen das Sprichwort: „Da steht mir das Wasser bis zum Hals.“
Nefesch kann den Menschen mit seinem Wunschtrieb, Begehren, Verlangen, Trachten und Sehnen beschreiben. In seinem Lied „Mensch“ singt Herbert Grönemeyer u. a.:

„Und der Mensch heißt Mensch,
weil er hofft und liebt,
weil er mitfühlt und vergibt
und weil er lacht und weil er lebt,
weil er schwärmt und glaubt,
sich anlehnt und vertraut.“

Das, was den Menschen ausmacht – wie hier von Grönemeyer besungen –, wird so oft mit Nefesch beschrieben. Der Mensch ist Nefesch, weil er das im Lied Genannte tut. Nefesch kann die ganze Klaviatur menschlicher Empfindungen und Gemütszustände beschreiben. An diesen Stellen ist Nefesch dann tatsächlich mit Seele zu übersetzen. Die Nefesch eines Menschen kann dabei erschrocken, unruhig, bitter und verzagt sein, sich schwach fühlen, hassen und traurig sein, aber eben auch sich freuen und jubeln.
„Der Mensch heißt Mensch, weil er lebt.“ Auch da passt das Lied noch einmal gut. Nefesch steht in bestimmten Kontexten für das Leben insgesamt. 
„Nefesch für Nefesch“, bedeutet „Leben tritt für Leben ein“. Leben auch als Kontrastwort zu Tod. Ebenso kann Nefesch für die Person, das Individuum und für das Wesen stehen oder die Stelle des Personal- oder Reflexivpronomens einnehmen.
Wie oben beschrieben, gibt es keine echte deutsche Entsprechung zum Wort Nefesch. Das deutsche Wort „Seele“ gibt nur unzureichend wieder, was mit Nefesch gemeint ist. Ebenso ist Seele nicht eins zu eins mit Nefesch zu beschreiben. Das hebräische Wort kabod, das unter anderem „Ehre, Herrlichkeit“ bedeutet, wird immerhin 4 mal mit „Seele“ übersetzt6 (Ps 16,9; 108,2).

Bleibt ein kurzer Blick auf die psychê:
Mit psychê wird die ganze Person des Menschen beschrieben. Die biblischen Grundbedeutungen sind Atem, Leben, Seele, Gemüt und Leidenschaften – also der Mensch als Ganzes.
Zum einen ist damit das physische Leben gemeint. In Matthäus 2 lesen wir, dass Herodes nach dem Leben, also der psychê des Kindes trachtete, das ihm als neuer König angekündigt worden war.
Es ist auch möglich, ähnlich wie im Wortfeld der Nefesch, eine Personenzahl mit psychê zu beschreiben. In 1 Petrus 3,20 heißt es: „Das war damals in den Tagen des Noach, als Gott geduldig wartete, solange die Arche gebaut wurde. Wenige wurden in ihr gerettet, acht Menschen (psychê) fanden Schutz vor dem Wasser.“7
Für uns und auch für die griechische Bibel ist psychê als Ausdruck für das emotionale Leben am gebräuchlichsten. Wenn jemand etwas von ganzem Herzen tut, dann ist die psychê im Spiel. Leben, das mehr ist als Nahrung, das ist psychê, und dieses Leben geht über den Tod hinaus und setzt es dem Tod gerade nicht entgegen. In der Bibel werden Leib und Seele, Denken und Fühlen, Schwachheit und Vitalität zusammengehalten.8

Die Existenz der Seele ...

... kann nicht bewiesen werden. Das ist wie mit Gott. Auch wenn es faszinierende Experimente in der Geschichte der Naturwissenschaften gab, ein handfester Beweis ist zu keiner Zeit erbracht worden.9
Wir haben festgestellt, dass schon der Begriff „Seele“ vielschichtig ist. Die unterschiedlichen Kulturen machen die Übersetzung und Deutung des Begriffs nicht einfacher. Wissenschaftler treten immer schon auf der Stelle, wenn es um die Seele geht. So sehr, dass die Seele in den vergangenen 100 Jahren nahezu vollständig aus der Psychologie verschwand. Im Jahr 2014 war in psychologischen Journalen nur noch zwei Mal die Rede von der Seele. Die Seele verschwindet aus der Wissenschaft – vielleicht, weil sie so schwer zu (be)greifen ist.
Der biblische Befund verdeutlicht uns aber, dass die Seele mehr ist als ein Stoff, ein Zubrot, etwas von uns Getrenntes. Sie ist das, was uns im Innersten aus- und lebendig macht.
 

Anja Bär

Anja Bär ist Pastorin, Mutter von vier wunderbaren Kindern, Podcasterin, Vorsitzende des Vertrauensrates im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden und gemeinsam mit Lea Gründerin des Podcasts „Die Predigtbuddies“ (erscheint wöchentlich).

Lea Herbert

Lea Herbert ist Leiterin des Dienstbereichs „Kinder und Jugend“ im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden, verheiratet mit Christian, Mama von Zwillingen und Podcasterin. Sie begleitet Menschen und Gruppen mit ihrem Unternehmen „Kompass auf neu“.

1Quelle: https://www.csv-bibel.de/strongs/Seele/5, letzter Zugriff: 23.01.2025, 17:48.

2 Vgl. Art.: Seele. In: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde (EThLG) 3, 1994, 1815-1816.

3Quelle: https://www.hagalil.com/2017/04/seele/, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:45.

4Quelle: https://www.geo.de/wissen/gesundheit/leben-nach-dem-tod--gelehrte-suchen-beweise-fuer-die-seele-30544034.html, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:30. Interessanterweise waren es 2011 laut der Zeitschrift „Focus“ noch neun von zehn Deutschen, die an die Existenz einer Seele glaubten, während nur knapp die Hälfte an das Weiterleben dieser Seele nach dem Tod glaubte (Quelle: https://www.hagalil.com/2017/04/seele/, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:30). Im Jahr 2015 glaubten laut einer Statista-Umfrage immerhin noch sieben von zehn Deutschen an die Existenz einer Seele (Quelle: https://www.spektrum.de/news/warum-wir-an-die-seele-glauben/1379699, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:30).

5Quelle: Hans Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 2010, 29-55.

6 Vgl. Art.: Seele (wie Anm. 1).

7 1. Petr 3,20b, Bibel in gerechter Sprache.

8Quelle: https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/die-bibel/glossar/?nefesch, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:45.

9 So z. B. unternahm der US-amerikanische Arzt Duncan MacDougall den Versuch, die Seele zu wiegen. Er baute eine Waage, die ein Bett samt Körper auf drei Gramm genau wiegen konnte. Im Ergebnis stellte er fest, dass ein Sterbender im Moment seines Todes 21 Gramm Gewicht verlor. MacDougall war fortan überzeugt, dass es einen Stoff namens Seele gebe (Quelle: https://www.geo.de/wissen/gesundheit/leben-nach-dem-tod--gelehrte-suchen-beweise-fuer-die-seele-30544034.html, letzter Zugriff: 13.01.2025, 12:45).