Die Seele in den abrahamitischen Weltreligionen

Von Patricia Sophie Böckmann  |  Erschienen in HERRLICH 01|2025, Seiten 6-11  |  Lesezeit: 8:18 Min

 „Es ist unglaublich, wie viel Kraft die Seele dem Körper zu leihen vermag.“ (Wilhelm von Humboldt) – Aber was ist die Seele? Und in welchem Verhältnis steht sie zu unserem Körper? 

Judentum

Schauen wir in die jüdische Tradition, spezifischer in die Schöpfungsgeschichte, so wird uns dort eine Anthro­pologie, eine Lehre über den Menschen, präsentiert. Gott schafft zunächst den Körper des Menschen aus Staub von der Erde, dann gibt er ihm den Lebenshauch und der Mensch wird zu einem lebendigen Wesen, zu einem „Nefesch“. In vielen Übersetzungen wird dieser Begriff mit dem Wort „Seele“ wiedergegeben.
Eine Seele haben nach diesem Verständnis nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen, und es handelt sich nicht um einen vom materiellen Körper trennbaren Teil. Die Seele wird hier also als Sitz der Lebenskraft verstanden, wobei dies mit dem Atem und auf der körperlichen Ebene spezifischer mit der Kehle in Verbindung gebracht wird. Diese körperliche Komponente weitet die Bedeutung auch auf die Ebene der mit der Ernährung verbundenen Bedürfnisse aus, so dass die Seele auch als Sitz der Begehren verstanden werden kann. Was die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen angeht, so werden diese allerdings dem Herzen zugeordnet. Das innere Sein einer Person wird so in der jüdischen Tradition als Teil der Funktionen der Organe verstanden, die sich im Körper befinden. Eine Unterteilung von Körper und Seele macht also aus dieser Perspektive wenig Sinn. 
Dies stellt einen klaren Kontrast zum Verständnis der Seele in der griechischen Philosophie dar, die das Judentum im Laufe seiner Geschichte, aber insbesondere auch das Christentum in seiner Entstehung und Entwicklung stark beeinflusst hat. Insbesondere Platon hatte einen erheblichen Einfluss darauf, dass sich im Christentum eine Unterteilung zwischen Körper und Seele herausgebildet hat. Nach Platon ist die Seele, die er mit dem griechischen Begriff „Psyche“ bezeichnet, unsterblich und soll unabhängig vom Körper existieren. Die Idee der Unsterblichkeit der Seele wurde in der weiteren Geschichte des Judentums immer wieder diskutiert und die Gelehrten kamen zu verschiedenen Antworten und Erklärungen, was das Wesen der Seele angeht.

Christentum

Schaut man aus christlicher Perspektive auf die neutestamentlichen Texte und die griechischen Übersetzungen der aus dem Judentum stammenden Schriften des Alten Testaments, findet man den Begriff „Psyche“ sowohl für das jüdische, mit der Idee des Sitzes der Lebenskraft verbundene Konzept der Seele verwendet, als auch für das aus der platonischen Philosophie stammende Konzept, das eine Teilung von sterblichem Körper und unsterblicher Seele in den Vordergrund stellt. Diese Unklarheit über das Verhältnis von Körper und Seele und die Frage, ob und wie die Seele ohne den Körper existieren könne, hat in der Geschichte des Christentums Theologen und Gelehrte zu den verschiedensten Theorien über die Natur der Seele geführt. 
Für die Entwicklung der Idee der vom Körper völlig unabhängigen Seele ist auch ein Blick auf die Gnostiker von Interesse. Während sich in der platonischen Philosophie das Verständnis herausbildete, die Seele entwickle sich in natürlicher Selbstentfaltung aus dem Geist heraus und sei daher vollständig durch die Vernunft gelenkt, hatten Gnostiker ein Weltbild, das die materielle der geistigen Welt gegenüberstellte. Die materielle Welt wurde hier als ein Gefängnis für den Geist verstanden und die Seele wurde von vielen Gnostikern als das Bindeglied angesehen, das den Geist im materiellen Körper gefangen hielt. Gnostiker strebten also ihre Befreiung von der materiellen Welt an und trugen zu einem negativen Verständnis des Körperlichen bei. 
Auch wenn das Christentum die Lehren der Gnostiker ablehnte, finden wir beispielsweise bei Johannes Calvin, einem der wichtigsten Reformatoren des 16. Jahrhunderts, die Auffassung, dass die von ihm als unsterblich verstandene Seele im Körper gefangen sei und durch den Tod befreit werde. Ein weiterer bedeutender Einfluss auf das Verständnis christlicher Gelehrter war die aristotelische Philosophie, nach der der Mensch aus drei Teilen bestehe: Körper, Seele und Geist. Während diese Philosophie die Idee der Unsterblichkeit der Seele in Frage stellt, wurde sie von christlichen Autoren in der Regel verteidigt. Welche Funktionen der Seele und welche dem Geist zugeordnet wurden, ist allerdings zwischen den verschiedenen Gelehrten immer wieder unterschiedlich ausgelegt worden.

Islam

In der islamischen Tradition finden wir mit dem Begriff „Nafs“ eine Parallele zum „Nefesch“ der jüdischen Tradition. Der Begriff bezeichnet hier das Selbst. Es wird als Sitz der Begierden verstanden und ihm wird somit eine psychische Funktion zugesprochen. Der Islam kennt aber ebenfalls das mit dem Atem verbundene Konzept der Seele als Sitz der Lebenskraft, das durch den Begriff „Rūḥ“ bezeichnet wird. In Sure 17, Vers 85 lehrt der Koran, dass dieser „Rūḥ“ (im Folgenden mit „Geist“ übersetzt) für den menschlichen Verstand nicht fassbar sei: „Sie fragen dich nach dem Geist. Sag: Der Geist ist vom Befehl meines Herrn, euch aber ist vom Wissen gewiß nur wenig gegeben.“ Das Wissen über das Wesen der Seele entzieht sich uns Menschen also, wenn wir der muslimischen Tradition Glauben schenken.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Die verschiedenen abrahamitischen Religionen haben also eine jeweils leicht unterschiedliche Vorstellung davon, was die Seele ist. Dabei haben Sie die Gemeinsamkeit, die Seele als etwas anzusehen, das mit der Lebensgabe durch Gott in Verbindung steht. Auch wird die Seele immer in ihrem Verhältnis zum Körper gedacht: in unlösbarer Verbindung, in kompletter Unabhängigkeit oder sogar in Opposition zu ihm. Hierbei fällt auf, dass die Idee der vom Körper getrennten Seele im Christentum stärker diskutiert wird, wobei Körper und Seele sowohl im Judentum als auch im Islam eher als eine Einheit gedacht werden. 
Doch warum bewegt uns diese Frage nach dem Wesen der Seele so sehr? Die Suche danach, verstehen zu können, was genau unsere Seele eigentlich ist, ist zunächst einmal ein Sich-nach-Innen-wenden. Wenn wir uns Fragen zur Natur unserer Seele stellen, dann versuchen wir letztlich zu erfassen, wer wir selbst sind, was uns unabhängig von unseren äußeren Merkmalen, unabhängig von unserem Körper, ausmacht.
Gleichzeitig birgt die Frage nach der Seele die Frage nach unserer Beziehung zu Gott. Wenn unsere Seele das ist, was in unserem Inneren durch den göttlichen Lebensatem geschaffen wurde, sei es lediglich der Sitz unserer Lebenskraft oder ein vom Körper unabhängiger Teil unseres Wesens, der ausmacht, wer wir innerlich wirklich sind, dann ist unsere Seele unsere Verbindung zu Gott. Mit der Frage nach dem Wesen unserer Seele begeben wir uns also gleichzeitig auf die Suche nach Gott und nach dem Einfluss, den er auf unsere Leben haben kann.

Doch mit der Frage nach dem Wesen der Seele ist noch eine weitere große Frage der Menschheit verbunden: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Was geschieht mit unserer Seele, wenn wir sterben?
Auch hier geben die abrahamitischen Religionen unterschiedliche Antworten. Im Judentum gab es zunächst keine Vorstellung von einem Leben nach dem Tod. Die als Sitz der Lebenskraft verstandene Seele ging mit dem Tod verloren. Für ein Leben in Gottes Sinn wurden Gläubige durch eine besonders lange irdische Lebenszeit und eine Bestattung bei ihren Vorfahren belohnt. In Parallele zum Aufkommen von Diskussionen über die Möglichkeit der Unsterblichkeit der Seele entwickelte sich im Lauf der Zeit in der jüdischen Tradition ein Auferstehungsglaube. Die Auferstehung betrifft in diesem Fall allerdings nicht allein die Seele, sondern auch den Körper. Demnach wird dem gesamten Menschen, also Körper und Seele, ein neues Leben gegeben. Während sich die Auferstehung zunächst nur auf Angehörige des von Gott erwählten Volkes bezog, teils auch nur auf die von Gott als gerecht Angesehenen, konnte diese Möglichkeit auch für andere Menschen mitgedacht werden. Dies war möglich, indem sie an die Heilszusage Gottes an Israel gebunden wurde, durch die auch die anderen Nationen Erlösung finden sollten. Eine Anbindung der leiblichen Auferstehung der Toten beim Endgericht ist ebenfalls eine im Judentum diskutierte Antwort auf die Frage, was nach dem Tod kommen wird. Auch das Weiterbestehen einer unsterblichen Seele wird von liberalen jüdischen Gelehrten als Möglichkeit für das Leben nach dem Tod zur Diskussion gestellt.

Das Christentum hat zunächst den Glauben an eine Auferstehung von Körper und Seele vom Judentum übernommen. Auch hier war der Auferstehungsglaube zunächst in Verbindung mit dem Endgericht gedacht. Mit der Zeit entwickelte sich im Christentum allerdings die Idee des alleinigen Fortbestehens der unsterblichen Seele, die sich beim Tod vom Körper löst. Diese Seele würde dann entweder beim Endgericht oder direkt nach dem Tod durch Gott gerichtet. Für das Urteil sind nach den verschiedenen christlichen Traditionen das Verhalten der Person zu Lebzeiten sowie ihr Glaube in unterschiedlichem Ausmaß ausschlaggebend. Der Verstorbene wird also durch das Urteil der Hölle, dem Fegefeuer oder dem Himmel zugeteilt. Einen besonderen Einfluss auf die Vorstellung dieser drei Sphären hatte die „Göttliche Komödie“ des italienischen Dichters Dante Alighieri. Die Hölle wird hier als ein Ort des unendlichen Leidens beschrieben. Das Fegefeuer hingegen ist ein Ort temporären Leidens, in dem die Seele von den sie belastenden Sünden gereinigt wird. Der Himmel ist der Ort für die nicht von Sünde belasteten Seelen und wird als Ort der Nähe zu Gott verstanden. Hierdurch wird er auch mit dem Leben im Paradies in Verbindung gebracht.

Der Islam kennt ebenfalls den Glauben an eine Auferstehung der Toten beim Endgericht. Er teilt den Glauben an eine körperliche Auferstehung mit dem Judentum. Mit dem Christentum teilt der Islam wiederum die Annahme, dass die Menschen beim Endgericht auf die Hölle oder den Himmel verteilt werden. Ein dem Fegefeuer entsprechendes Konzept existiert allerdings nicht. Die Hölle wird in der muslimischen Tradition unter anderem als Grube oder als loderndes Feuer charakterisiert, wobei der Himmel mit dem Garten Eden und dem Paradies in Verbindung gesetzt wird.
Die Vorstellungen davon, was nach dem Tod mit uns geschieht, werden nicht nur zwischen den verschiedenen abrahamitischen Religionen unterschiedlich ausgelegt, sondern auch innerhalb dieser Religionen. Die Erwartungen für das Leben nach dem Tod sind damit genauso divers wie die Konzepte, die das Wesen unserer Seele beschreiben sollen.

Letztlich ist wohl nicht klar zu bestimmen, was unsere Seele ist und was mit uns geschieht, wenn wir sterben. Die Antworten auf diese Fragen liegen allein bei Gott. Ob sich unsere Theorien bestätigen oder als falsch erweisen, werden wir erst wissen, wenn die Zeit für diese Antworten gekommen ist. Was die abrahamitischen Religionen allerdings vereint, ist einerseits der Glaube, dass wir etwas in uns tragen, das uns von Gott gegeben wurde und das uns immer mit ihm verbinden wird. Und andererseits können wir darauf vertrauen, dass mit dem Tod nicht alles aufhört, sondern dass danach noch etwas kommen wird. 
 

Patricia Sophie Böckmann

Patricia Sophie Böckmann arbeitet seit November 2023 als Theologische Referentin im Bildungsteam der Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin. Für ihre theologische Ausbildung hat sie die Fakultät für protestantische Theologie der Universität Straßburg (Frankreich) sowie das Institut für ökumenische Theologie Al Mowafaqa (Marokko) besucht.