Museumsbesuch
Ein interaktiver Galerierundgang zum Thema „Sichere Gemeinde“
GJW Bundeskonferenz | Erschienen in HERRLICH 01|2024, Seiten 24-35 | 5:49 MIN
Vom 3. bis 5. November 2023 fand in Elstal die 33. GJW-Bundeskonferenz statt. Dort wurde auch das 15-jährige Jubiläum der Kinderschutz-Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ gewürdigt. Dies geschah in Form eines „Museumsbesuchs“. Liebevoll und kreativ hatte ein kleiner Vorbereitungskreis vier Ausstellungsräume gestaltet, in denen die Teilnehmenden sich mit der Kampagne beschäftigen, eigene Erfahrungen mit dem Thema reflektieren und Feedback zum Thema „Sichere Gemeinde“ geben konnten. So gab es einen Raum zum Lernen, einen Raum für Wahrnehmung, einen Raum, um Anteil zu nehmen, und einen Raum der Hoffnung.
Der interaktive Rundgang durch diese Räume wurde zu einem sehr emotionalen und intensiven Highlight dieser Bundeskonferenz. Deshalb wollen wir ihn an dieser Stelle ausschnittsweise in Bild und Wort dokumentieren. – Wir danken allen, die sich dort beteiligt haben, für ihre Offenheit – und dass sie uns in ihr Herz haben schauen lassen!
Raum zum Lernen
Im Raum zum Lernen gab es viel zu entdecken: die Historie der Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ (s. Seiten 10-15), sowie jede Menge Literatur und Material zum Thema. Auf Plakaten konnten die Teilnehmenden ihre Ideen, Fragen und Themen zur Weiterarbeit am Thema „Kinderschutz“ hinterlassen.
So wurde gefragt: Welche biblischen Texte und theologischen Traditionen sind beim Thema (sexuelle) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hilfreich? Welche eher hinderlich oder sogar gefährlich? Und: Was muss dringend bearbeitet werden?
- Rassismus
- Texte zu körperlicher Züchtigung
- Sex vor der Ehe – eine Sünde?
Im Blick auf die Gemeinde und Gemeindegruppen lautete eine Frage: Wie müssen Gemeinde und Gemeindegruppen gestaltet sein, um (sexuelle) Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verhindern? Was können wir tun? Was muss sich ändern?
- Enttabuisieren von „Sexualität“, damit Kids und Jugendliche sich nicht schämen, darüber zu reden, sobald etwas unangenehm ist, und es auch klar benennen können.
- Gemeinden brauchen Kindesschutzkonzepte!
- Kultur des Hinschauens
- Regelmäßige Vor- und Nach-Reflektionsstunden
Auch zu den Bereichen Prävention und Intervention gab es Fragen: Was von dem, was wir in diesen Bereichen bereits haben, ist gut und hilfreich? Was ist ausbaufähig? Was muss dringend noch entwickelt werden? Welche Themen müssen zeitnah noch bearbeitet werden?
- Dringend entwickelt werden muss neben Prävention und Intervention auch der Bereich Aufarbeitung!
- Gut und hilfreich ist, dass ihr angefangen habt ...und der Kodex für Mitarbeitende.
- Zeitnahe Bearbeitung brauchen die Themen „Gute und schlechte Geheimnisse“, „Was in der Familie passiert, bleibt in der Familie!“ und „Rassismus“.
Raum, um Anteil zu nehmen
Im Raum, um Anteil zu nehmen, war eine Postkartenausstellung des Vereins Gegen Missbrauch e. V. zum Thema aufgebaut (https://www.gegen-missbrauch.de/unsere-projekte/postkartenausstellung/).
Dazu gab es zwei Schalen, die einen „Topf der Klage“ und einen „Topf des Dankes“ darstellten. Die Teilnehmenden konnten sich Zettel nehmen und aufschreiben, wofür sie dankbar sind oder was sie betrauern. Diese Zettel konnten dann in die Schalen gelegt werden. Und es gab die Möglichkeit, ein Gebet zu sprechen und die eigenen Anliegen vor Gott zu bringen. An einem großen Schirm hingen Bibelverse, zu denen die Teilnehmenden eigene Gedanken ergänzen konnten, zum Beispiel: „Danke allen Vorreiter*innen, die manchen Widerstand aushalten mussten“ oder „Danke, dass Du die Aufmerksamkeit dafür geschaffen hast“.
Hier eine Auswahl aus dem „Topf des Dankes“
- Danke, dass ich jetzt toxische Menschen und Beziehungen kenne und diese nicht in mein Leben lasse. Danke, dass ich jetzt positive Beziehungen habe.
- Danke, dass mir niemals körperlicher oder sexueller Missbrauch passiert ist.
- Danke, dass du mich vor so vielem bewahrt hast und dass ich so sicher leben darf!
- Danke, dass die Opfer von Gewalt immer mehr den Mut finden, darüber zu sprechen!
Hier eine Auswahl aus dem „Topf der Klage“
- Warum fühlt die Welt sich dermaßen gespalten und unsicher an?
- Es ist schlimm, was Menschen Menschen antun.
- Ich beklage, dass immer noch keine Stelle im BEFG für Gewaltprävention geschaffen wurde.
- Es ist nicht zu begreifen, warum unsere verletzlichsten Mitmenschen, die Kinder, ein solches Leid erfahren. Wieso gibt es Menschen, die so Böses tun?
- Manchmal werden die Täter (und ihr „guter Ruf“) besser geschützt als die Opfer.
- Es gibt immer noch Gemeinden, die meinen, das sei „kein Thema“ für sie.
Raum für Wahrnehmung
Der Raum für Wahrnehmung (#ankreiden #stopcatcalling #metoo) war der vielleicht emotionalste Raum der Ausstellung. Hier haben Teilnehmende der GJW-Bundeskonferenz aufgeschrieben, was sie selbst an (sexuellen) Übergriffen erlebt haben.
Eigentlich müsste die ganze Welt das zu lesen bekommen, damit deutlich wird, was normalen Menschen aus unserer Mitte jeden Tag passiert. Weil es aber sehr persönliche Erlebnisse sind, die im Rahmen der BUKO geteilt wurden, zeigen wir euch nicht alle Details. Ihr könnt euch vorstellen, welche Erlebnisse geschildert wurden. In der U-Bahn, in Restaurants, nachts allein auf der Straße, beim Kellnern oder bei der Physiotherapie ...
- ... von hinten über den Kopf gestrichen.
- ... an Hintern und Brüste gefasst.
- ... auf den Hintern geschlagen oder mich ...
- ... und fasste an meinen Po.
- Pfiffe aus dem Auto ...
- Eigentlich war es nur ein Spaß ...
- ...Der Mann setzt sich direkt zu mir. ...
- ... Er hat viele unangenehme Sprüche gemacht ...
- ... Ich hatte Angst.
- Ach komm, stell dich doch nicht so an! ...
- ... nicht auf „Nein“ und „Stopp“ gehört, ...
Raum der Hoffnung
Im Raum der Hoffnung konnten die Teilnehmenden über zwei Fragen nachdenken.
Welche Gedanken, Wünsche und Hoffnungen hast du im Blick auf unsere Kirche?
- Du darfst traurig, wütend, verletzt, verzweifelt, bedrückt, hoffnungsvoll … sein. Deine Gefühle sind zugelassen!
- Dass im UB25-Prozess Stellen geschaffen werden für Gewaltprävention.
- Gemeinsames Ringen um Erkenntnis der Wahrheit – Einheit im Geist Gottes bei aller Vielseitigkeit.
- Jedes Gefühl ist wichtig & richtig!
- Don’t give up!
- Ermutigung zur Wahrnehmung von Grenzen aller Art. Botschaft: Du bist wichtig, deswegen auch deine Grenzen!
- Stärke & Vertrauen
- Dass wir nie mit Sichere Gemeinde aufhören
- Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.
- Mut zur Aussprache. Zeit zum Zuhören, Lernen, Verstehen. Einander annehmen.
- Ich wünsche mir, dass eines Tages alle sagen: „Bei uns Baptisten haben Täter:innen keine Chance!“
- Sichere Gemeinde ohne Barrieren und mit möglichst wenig beschränkenden Regeln.
Welche Formen von Gewalt und Missbrauch sollten wir zukünftig stärker in den Blick nehmen?
- Toxische Männlichkeit, oft in Verbindung mit häuslicher Gewalt (psychisch/physisch)
- Frühsexualisierung (online, soziale Medien)
- Vernachlässigung.
- Diskriminierung – intersektional
- Nicht ausnutzen als Erwachsener („Du machst das jetzt, weil ich das sage.“)
- (Natürliche) Machtgefälle
- Geistige Gewalt („Hätte Gott das gewollt?“)
- Nach außen subtile Gewaltformen
- Toxische Elternteile/Geschwister
- Christliche Gewalt, das Gefühl, nicht so „richtig“ dazuzugehören, wenn ich noch nicht bekehrt bin. Das Gefühl, glauben zu müssen.
- Vernachlässigung im Sinne von Schlafentzug bei Kindern auf dem Zeltlager
- Macht und Ungerechtigkeit in Strukturen
- Toxische Männlichkeit. Ich kann nicht nach Hilfe fragen, ich darf nicht schwach sein. Die Gewalt, die ich mir damit selbst antue.
- Emotionaler Missbrauch / Psychischer Missbrauch.
- Chancenlosigkeit aus Macht- und Profitgier
- Gewalt unter Eltern
- Nicht „gewollte“ Gewalt im Elternhaus durch bewusstes „klein“ machen/halten von Kindern.
Gedanken zum „Museumsbesuch“
Gedanken zum Museumsbesuch
Ein Teilnehmer schreibt, was ihn berührt und bewegt
Bei der Bundeskonferenz des Gemeindejugendwerkes haben wir uns dieses Jahr unter anderem mit dem 15-jährigen Jubiläum der Kampagne „Auf dem Weg zur sicheren Gemeinde“ beschäftigt. Dafür haben ein paar Personen ein Museum mit verschiedenen Räumen aufgebaut (s. Seiten 24-33).
Von Anfang an, war ich begeistert davon, welcher Aufwand betrieben wurde und wie gut die Räume eingerichtet waren. Es hat das ganze Thema unfassbar greifbar und vor allem erfahrbar gemacht.
Ein Raum hat meine Aufmerksamkeit besonders auf sich gezogen, und zwar der Raum der Anteilnahme. Hier gab es Möglichkeiten für Gebet oder auch für Zusprüche für die Opfer von Gewalt, insbesondere von sexualisierter Gewalt. An den Wänden hingen Plakate mit Collagen von Postkarten. Dabei handelte es sich um eine Aktion, bei der Geschichten von Opfern in künstlerischer Form dargestellt wurden, um ihnen eine Stimme zu geben (s. Seiten 28-29).
Jede einzelne Karte hat mich sprachlos gemacht, doch eine Karte stach für mich heraus. Auf ihr war eine krakelige Zeichnung von einem Löwen abgebildet. Vermutlich hat sie ein Kind gemalt. Der Kopf war umschlungen von einem Greifer, ähnlich wie bei einem Greifautomaten auf einem Volksfest. Daneben standen ein paar Worte, ebenfalls in krakeliger Schrift: „Warum Papa? Ich habe dich doch lieb gehabt.“
Diese Karte ging mir sehr nah. Zwar bin ich noch kein Vater, aber in ein paar Jahren wird es vermutlich soweit sein, und ich freue mich schon sehr darauf. Ich freue mich darauf, mit meinem Kind und meiner Frau durch die Wohnung zu toben, mir die Geschichten von den Abenteuern anzuhören, die es erlebt, in guten Zeiten zusammen zu lachen und in schwierigen Zeiten zusammen zu kämpfen oder zu weinen.
Und so hat sich sofort ein Bild in mir eingebrannt: ein Bild von einem Kind, das sich ausstreckt, um von seinem Vater in die Arme genommen zu werden; von einem Kind, das seinen Vater liebt; von einem Kind, das hochgenommen werde möchte. Und eben dieses Kind hat die Liebe, die es sich so sehr gewünscht hat, nicht bekommen. Stattdessen musste es unaussprechliche Dinge erleben.
Ich habe lange über diese Karte und diese Kinder nachgedacht. Gleichzeitig habe ich auch über meine eigene Machtlosigkeit nachgedacht, weil ich Kindern in ähnlichen Situationen nicht helfen kann. Obwohl ich durchaus einen gewissen Einflussbereich habe, kann ich nichts ändern.
Und so wurde ich wütend. Ich wurde wütend auf mich, und ich wurde wütend auf unsere Gemeinden. Weil wir oft vergessen, den Blick nach außen zu richten. Natürlich gibt es auch innerhalb unserer Gemeinden Schwierigkeiten, auch mit verschiedenen Gewaltformen. Und dennoch denke ich, dass sie ein Zuhause bieten können, sodass Menschen mit solchen traumatisierenden Hintergrundgeschichten eine Chance haben, Jesus kennen zu lernen. Und somit hätten sie auch eine Chance, seine Liebe zu erfahren.
Doch unser Blick ist oftmals zu sehr auf uns gerichtet. Ich bekomme immer wieder zu hören, dass unsere Gemeinden aus Mittel- und Oberschicht besteht. So haben sich unsere Gemeinden eben historisch entwickelt. Ich frage mich aber, warum wir uns damit zufriedengeben? Warum versuchen wir nicht, Menschen zu helfen, die unsere Hilfe dringend brauchen? Warum versuchen wir nicht, Kinder zu erreichen, die keine Liebe erfahren?
Es sind so viele Gedanken und Fragen, auf die ich aktuell noch keine Antwort habe. Doch ich habe für mich persönlich beschlossen, dass ich daran etwas ändern möchte. Ich erwarte nicht, dass jede Gemeinde einen diakonischen Dienst startet und therapeutische, beziehungsweise seelsorgerische Unterstützung leistet. Aber ich möchte herausfinden, wie wir gemeinsam unsere Augen offenhalten können, um zu erkennen, welche Menschen unsere Unterstützung benötigen. Menschen aus unserer Gemeinde. Menschen aus unserer Stadt. Menschen, die uns im Alltag begegnen.
Und so ist meine Hoffnung, dass wir zusammen Schritt für Schritt weiter in eine Richtung gehen, in der wir als Gemeinden – und damit meine ich nicht nur uns als Baptisten, sondern uns als Christen – weiterhin einen sicheren Raum für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schaffen.<