„Und vergib uns unsere Schuld ...“
Dem Bösen in der Geschichte begegnen
Von Hendrik Kissel | Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 28-31 | 7:33 MIN
Vorbildlicher Umgang: Facebook und Instagram entfernen weltweit Holocaustleugnungen von ihren Plattformen. - In Deutschland ist, den Holocaust zu leugnen, eine Straftat. Die Tatsachen sind bestens erforscht und dokumentiert. 1945 bekannten die EKD-Kirchen ihr Versagen in den Kirchenleitungen während des Nationalsozialismus. 1948 nannte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) Antisemitismus eine Sünde. Vierzig Jahre später (1984) auch der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG). Und er legte 1997 nach, indem er nochmal seine Schuld gegenüber dem jüdischen Volk bekannte.
Alles gut!
Die Kirchen haben nach 1945 ihr Verhältnis zum Judentum neu bestimmt und bekennen: "Antisemitismus richtet sich auch gegen das Fundament der Christen!" Evangelische Christen sind darin mit Papst Franziskus einer Meinung: "Ein Christ kann kein Antisemit sein!" Die jahrhundertealte christliche Judenfeindschaft, so stellen Christen voller Scham fest, hat den mörderischen Antisemitismus gefördert.
Alles gut?
Wieso beten Christinnen und Christen seit rund 2000 Jahren das "Vaterunser"? Weil sie nicht frei sind, von Verfehlungen, Versagen und Sünde. Weil sie sich der Gefahr ihres Versagens bewusst sind. Sie geben sich, wenn sie um Vergebung ihrer Schuld bitten, leidenschaftlich Mühe, dass sie sich im Glauben bewähren. Daher der Holocaust, das Böse, in Gottesdiensten und in vielfältigsten Aktionen!
"Vater ... führe uns nicht in Versuchung ..."
Baptisten waren "wie alle anderen auch".1 Sie konservierten als längst veraltetes Verständnis von Römer 13 die verordnete Obrigkeitstreue. Wie alle anderen auch, hatten sie Angst vor dem Kommunismus. Beruhigend, wieder "eine sittliche Erneuerung, die mit Zucht und Ordnung verbunden wurde ... Verwerfung der Nacktkultur ... Tanzen ... immer schon verdächtige Zeichen .... Auswüchse des Liberalismus und jüdischer Dekadenz."2 Gott schien ihr politisches Desinteresse zu legitimieren: Die Obrigkeit war ja - mit der Wehrmacht - siegreich.
Und wir wurden endlich - überfällig seit der Weimarer Republik! - von staatlicher Seite als Kirche ernstgenommen. Einige der etablierten Kirchenvertreter verunglimpften die Freikirchen immer noch als Sekte. Es schien klüger, sich auf die Obrigkeit zu verlassen und nicht auf die anderen Geschwister. Schweigen sollten die lästigen Briefeschreiber innerhalb des Baptismus (Jacob Köbberling, 1937).3 Es zeigte sich doch, dass wertvolle Aspekte des Evangeliums praktiziert werden durften. Dieser Segen aber wurde "erkauft" (Jacob Köbberling, 1946, vs. Paul Schmidt, Unser Weg 1946): Jüdische Geschwister wurden ausgegrenzt, mindestens fünf leere Synagogen durch "göttliche Fügungen" günstig erworben ... Jubiläums-Festschriften nach 1945 be(r)ichten wenig aus der Zeit "des Krieges".2 Den Vorwurf der "kollektiven Schuldabwehr" müssen sie sich gefallen lassen, wie Idyllen der deutschen Heimatfilme aus den 1950er-Jahren, die Berichte über Zeltevangelisationen; wie völkische Brauchtumspflege, wenn von Hochzeiten, Festen und anderer Folklore erzählt wird.
Schuldig werden nach der Schuld des Dritten Reiches
Wir beten in jedem Gottesdienst "... führe uns nicht in Versuchung ...!" Weil wir wissen, dass wir Schuld verdrängen wollen. Weil wir schmerzliche Erinnerungen abwehren wollen. Weil wir die menschliche Sehnsucht nach Unschuld spüren.
Wir haben aber gehört und geben außerdem Gott recht, dass wir vor ihr nicht gefeit sind. Sollten wir ihr erliegen, bereiten wir den Boden für neue, andere Schuld.
Ich kann"s nicht mehr hören!
Beim Gedenken geht es nicht um persönliche Täterschaft oder eigene Schuld. Es geht um historische Verantwortung, dass sich so ein Zivilisationsbruch nicht wiederholt. Dass die Kirchen dazu nicht nochmal schweigen, diese Verantwortung tragen sie in der Wahl ihrer (missionarischen und diakonischen) Kooperationspartner:innen, bei Unterstützung von christlichen Aktionen und vor allem mit ihren Worten in ihren Gebeten.
Es kommt sehr wohl auf die liebevolle Wahl der Worte an! "Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen"4, sondern wurde durch Worte vorbereitet. Auch hier können wir im Umgang mit der Schuld der Vorherigen wieder schuldig werden.
Außerdem sitzen in den Gottesdiensten die Enkel:innen der Opfer oder sie lesen die Gemeindeblätter oder sie verfolgen Gottesdienste per Livestream und vieles andere mehr ...
Als Einzelne:r kann man - als Mitglied einer Kirche und der Christenheit - diese Verantwortung annehmen oder eben nicht.
"Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus - für heute - ergibt." (Hannah Arendt)
Der Umgang mit dem Nationalsozialismus ist von einer naiven Verharmlosung geprägt. In manchen Gottesdiensten wird naiv Antisemitismus befördert, und alle sagen: "Amen". Völkisches Denken wird in sogenannte "christliche Werte" oder in "biblische Familienideale" verkleidet, und wir alle quittieren das höflich mit: "Amen".
Wer das ändern oder verhindern will, braucht die Vermittlung von Historie. Chancen dafür bieten der Volkstrauertag, der 9. November, der 8. Mai oder der Sonntag für verfolgte Christen. Ich kenne eine Gemeinde, die das ganze Jahr über in ihren Gottesdiensten der baptistischen Opfer und Helden aus der Zeit des Nationalsozialismus gedenkt. Sie nennt ihre Todes- oder Geburtstage im Jahreszyklus. Worte und Rituale wollen dann liebevoll gewählt und gestaltet werden. Sie können die Opfer würdigen, oder sie können das Böse verharmlosen.
"So und nicht anders gewesen" oder einfach: "Du sollst nicht lügen!"
Die ermordeten Juden Europas sind keine Kriegsopfer. Der Zivilisationsbruch der Shoah ist keine Kriegshandlung. Das Überleben war die Ausnahme. Die Shoah war staatlich organisiert und letztlich ein durch die Wähler getragenes Verbrechen industriellen Ausmaßes.
Die junge Generation hat bald gar keinen persönlichen Kontakt mehr zu Menschen, die damals Opfer, Zuschauer oder Täter waren. Jugendliche mit Migrationshintergrund sowieso nicht. Alle aber spüren diffus die Präsenz des Schrecklichen und sind sich bewusst: Das war nicht nur irgendeine Epoche!
Beim Ablenken fängt das Negieren an: Krieg ist Krieg!
Wurden die Deutschen von einigen wenigen Nazis verführt? Mussten sie unter alliierten Luftangriffen leiden? Und wie war das mit der später erlittenen Vertreibung? Manche TV- und Kinoproduktionen bedienen das Opfergefühl: "Die große Flucht", "Der Untergang", "Die Gustloff" oder "Unsere Mütter, unsere Väter". Den Deutschen wird darin etwas angetan - und eigene Taten werden verharmlost.
Ja, es gab deutsche Kriegsgefangene. Insgesamt wohl 11 Millionen. Durch Hunger, Vertreibung, Flucht und Krankheiten starben - je nach Schätzung - bis zu 2 Millionen. Ihre Unterbringung entsprach nicht der Genfer Konvention. Aber von einem "Völkermord" kann nicht die Rede sein. Auch die "Israelkritik" erweist sich bei genauem Hinsehen als schuldabwehrende Täter-Opfer-Umkehr.
Ablenken: Die Endlosschleife führt zu Überdruss!
Mehr als jeder Fünfte in Deutschland meint, der Holocaust spiele in der deutschen Erinnerungskultur eine zu große Rolle. Wie bitte? In einer freien Gesellschaft gibt es (mediale) Selbstbestimmung! Keiner muss sich entsprechende Bücher kaufen, niemand muss diesen Artikel hier lesen, und niemand wird gezwungen, an (allen) Gottesdiensten teilzunehmen.
Negieren: Impf-Judenstern, Klima-Holocaust, Tier-KZ
Das Andenken von Millionen Opfern und Angehörigen wird verunglimpft und verharmlost. Die Vergleiche befördern leichtsinnig Antisemitismus. Das deutsche Wort "vergleichen" leistet mit der Silbe "gleich" dem Missverständnis Vorschub: Landläufig "Nazi-Vergleich" genannt, werden nicht vergleichbare Dinge "gleichgesetzt". Wer tatsächlich vergleicht, stellt fest, dass dadurch das Böse verharmlost wird und gegenwärtige Verhältnisse dämonisiert werden. Sachliche und ernstzunehmende Kritik geht anders.
"Denn dein ist das Reich ..."- Der Holocaust hat etwas mit uns zu tun!
Wer so betet, fragt sich und andere, die als Christ:innen unterwegs sind: Warum und auf welche Weise werden Menschen ausgegrenzt? Wie werden "normale" Menschen zu Massenmördern? Wie kann man die Würde des Menschen wirkungsvoll schützen? Sind solche Verbrechen wieder möglich?
Auf diese zeitlosen Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Es sind Fragen, die neue Fragen hervorrufen. Es sind universelle Fragen für religiöse und nichtreligiöse Menschen, die - auch losgelöst von der deutschen Geschichte - überall gestellt werden. Die Frage nach dem Bösen ist die Frage - mit oder ohne Konkretion des Holocausts -, für die es kein Verfallsdatum gibt.
Die Jugendgruppe der Friedenskirche in Berlin-Charlottenburg hatte 2022 die 100-jährige Holocaustüberlebende Margot Friedländer eingeladen. Diese und ähnliche Fragen wurden in aller Öffentlichkeit gestellt. (Selbst?) sie antwortete nach langem Schweigen: "Ich weiß es auch nicht." Jede und jeder Einzelne muss diese Fragen für sich persönlich beantworten.
Sind Baptisten zu bequem? "Das Fleisch ist schwach!" Anstrengende Beteiligung in politischen Gremien überlassen wir lieber den Vertreter:innen der Volkskirchen. Irgendwann ist aber Schluss damit. Auch sie leiden unter Mitgliederschwund. In der Weimarer Republik sollen Baptisten den "guten alten Zeiten" nachgetrauert haben. Diesmal müssen wir die Teilhabe in der säkularen und freien Gesellschaft bejahen! Wir dürfen außerhalb der Gemeinde nicht "das Ziel verfehlen" (griech. harmatia = "Zielverfehlung, Sünde"), sondern müssen in politischen Gremien und in der "Gedenkarbeit" fleißiger werden!
Amen
Das letzte Wort im Vaterunser: "So sei es. Was ich gesagt habe, das gilt."
Wer so betet, bricht über die Christinnen und Christen im Dritten Reich nicht den Stab. Ein Mensch, der das Vaterunser betet, ist sich bewusst, selbst schuldig werden zu können, und sehnt sich danach, es heute und vielleicht sogar morgen anders zu machen. Amen.
Hendrik Kissel ist Baptistenpastor in der Friedenskirche Charlottenburg. In seiner Freizeit lässt sich der Mittfünfziger beim Segeln den Wind um die Ohren pfeifen.
Projekt "Drei Stolpersteine"
Die Jugendgruppe der Friedenskirche bittet in Israel, bei Nachbarn und Presse um Mithilfe bei der Erforschung jüdischer Schicksale in Charlottenburg. Drei Holocaustopfer lebten bis 1941 an einer der Adressen der Gemeinde.
1 Vgl. Karl Heinz Voigt: Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert). Leipzig 2004, 163 (ISBN 978-3-374-02230-4).
2 Hans-Joachim Leisten: Wie alle anderen auch. Baptistengemeinden im Dritten Reich im Spiegel ihrer Festschriften
(Freikirchliche Beiträge zur Theologie 16) (ISBN 978-3-86682-137-8).
3 Roland Fleischer: Der Streit über den Weg der Baptisten im Nationalsozialismus (Baptismus-Dokumentation 4),
Oncken-Archiv Elstal 2014.
4 Marian Turski (93), Vorsitz des Rates des Warschauer "Museums der Geschichte der polnischen Juden".