Über das Böse im Märchen – und was wir davon lernen können

Von Petra Albersmann  |  Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 38-41  |  4:06 MIN  

„Es war einmal …“ – Kaum einer anderen Formulierung gelingt es, uns so schnell in unsere Kindheit zu bringen, wie diesen drei Worten. Mit ihnen begegneten wir Rotkäppchen und dem Wolf, bösen Stiefmüttern oder litten mit dem Dummling unter den älteren Brüdern.

Auch heute noch folgen Kinder den Märchenheld*innen nur zu gerne auf ihrer Reise, obwohl diesen jede Menge Böses widerfährt.

Märchen faszinieren schon immer und immer noch.
Sie erzählen von Wagnis und Aufbruch, von Hindernissen und Überwindung, vor allem aber von gelingendem Leben. Sie berichten, wie Menschen aus schwierigsten Situationen heraus zu neuem Leben finden, zu einer (Er-)Lösung kommen.

Diese Erlösung betrifft nie nur sie selbst, sondern auch ihre Umgebung. Märchen verdeutlichen, dass die Entwicklung des einzelnen immer auch eine Auswirkung auf seine Umwelt hat. Dabei beziehen sie sich immer auf das diesseitige Leben, wobei die Held*innen sich oft einem höheren Prinzip anvertrauen, wie zum Beispiel das Mädchen in „Die Sterntaler“, das gar nichts mehr hatte, und „da ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus aufs Feld“.

Dabei stellt sich nur selten die Frage, wer oder was gut oder böse ist.
Märchen kommen oft herrlich schwarzweiß daher: Das Gute ist freundlich, hilfsbereit, fleißig und schön. Das Böse ist oft das Gegenteil. Das macht es Kindern leicht, beides eindeutig als solches zu identifizieren und ihren moralischen Kompass auszurichten.

Beruhigend ist dabei die verheißungsvolle Botschaft der Märchen: Am Ende siegt das Gute. 
Tatsächlich erreichen die Held*innen am Ende das Gute meist sogar nur durch das Zutun des Bösen. So zeigt sich dieses oft als mephistolisches Prinzip, eben „als Teil jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ (Mephistoles zu Faust in Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“, 1808). Bei genauerer Betrachtung kommt das Böse also nicht immer so eindeutig daher.

Natürlich ist es grausam, wenn die Stiefmutter darauf besteht, dass Hänsel und Gretel im Wald ausgesetzt werden. Jedoch hätten diese anders das „Hotel Mama“ wohl nicht verlassen und wären nicht zu ihrem (inneren) Reichtum gelangt. Der König in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ wirkt großmütig, will aber den Jungen, der einst die Prinzessin heiraten soll, vernichten. Die Ellermutter dagegen verhilft ihm zu seinem Glück. Der Junge wiederum wendet durch seinen Weg nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern auch das vieler anderer. So wirkt das scheinbar Böse im Märchen häufig am Ende eher lebens­fördernd denn lebenshemmend. Doch es geht auch anders.

Verena Kast benennt zwei Märchenstrukturen (vgl. Verena Kast, Das Böse im Märchen, 27ff): 
Die geläufigste beginnt mit einer Not, die behoben werden will. Dieser Situation stellen sich die jeweiligen Held*innen und begegnen auf dem Weg zur (Er-)Lösung jeder Menge Hindernisse. Gerade die Not und die Hindernisse bilden den Antrieb, den Entwicklungsweg zu beginnen und weiterzugehen. Dabei wird dem Bösen ins Gesicht gesehen und ein Umgang damit gefunden; sowohl mit dem, was den Held*innen als böse von außen begegnet, wie auch mit ihren eigenen Schattenseiten. 

Die zweite Struktur ist deutlich seltener zu finden. Hier geht es darum, dem Bösen zu entgehen und es am Ende gar zu vernichten. Denn auch das zeigen Märchen: Es gibt das eindeutig Böse, das geradezu Dämonische, das nur zerstören will. Kast führt u. a. das Märchen „Blaubart“ an, in dem der gleich­namige Protagonist eine Frau nach der anderen heiratet, um Macht über sie auszuüben und ihr das Leben zu nehmen. Besonders Machthunger und Habgier identifizieren die Märchen als Ursache für das Böse. Diesem gilt es zu entfliehen, sich so weit wie möglich davon zu distanzieren, auch, um nicht Teil davon zu werden.

Märchen spiegeln also verschiedene Formen des Bösen wider und zeigen unterschiedliche Wege, damit umzugehen.  
Verena Kast definiert fünf dieser Möglichkeiten. Voraussetzung für all diese Möglichkeiten ist in jedem Fall das Respektieren, dass es das Böse, also eine dunkle Macht, gibt und auch eine dunkle Seite in jedem von uns, die es anzunehmen gilt.

  • Die erste Umgangsmöglichkeit liegt im liebevollen Annehmen des scheinbar Bösen. Dadurch kann ein guter Kern freigelegt und ein böser Zauber oder Fluch gelöst werden (z. B. in „König Lindwurm“, „Froschkönig“ und anderen Märchen).
  • Eine zweite Möglichkeit ist das Leugnen, das Böse wahrgenommen zu haben. Dies ist dann erforderlich, wenn Gefahr droht, sich in der Schattenseite zu verlieren und dadurch selbst böse zu werden und in innerer Zerrissenheit leben zu müssen (z. B. in „Marienkind“).
  • Eine dritte Möglichkeit ist der Kampf gegen das Böse: Ungeheuer, Riesen, Hexenmeister oder Ähnliches. Diese drohen, die Held*innen oder deren Liebste*n zu verschlingen – ein Bild dafür, dass alles, was diese sind oder erreicht haben, wertlos ist, eine besondere Form des Niedermachens, gegen die es unbedingt anzukämpfen gilt. Dieses Böse muss in den Märchen vernichtet werden, weil es keine Alternative dazu gibt. (z. B. in „Hänsel und Gretel“, „Schneewittchen“ und anderen Märchen).
  • Eine vierte Form des Umgangs mit dem Bösen ist die List. Mal wird der Teufel überlistet, ein überheblicher König oder eitler Zauberer. Die List setzt voraus, dass man weiß, wie das Böse vorgeht; dass man sich damit und mit den eigenen Schattenseiten auseinandergesetzt hat (z. B. in „Das tapfere Schneiderlein“, „Der gestiefelte Kater“).
  • Zuletzt bleibt die Flucht. Dabei gilt es immer, etwas zu opfern; alles loszulassen, ganz einfach und leicht zu werden, um dem Bösen zu entgehen. Das können Sachen sein, von denen das Böse meint, es gehöre ihm. Es kann sich aber auch um Hochmut oder übersteigerte Ansprüche an sich selbst handeln. In jedem Fall bedeutet es, nicht mit dem Bösen in Kontakt zu treten, nicht einmal den Blick darauf zu lenken, sondern sich ganz auf die eigene Mitte zu fokussieren, um zu erkennen, was zu tun ist und wo der Weg weiterführt.

Natürlich gibt es kein Patentrezept für den Umgang mit dem Bösen, so sehr wir uns das wünschen würden.
Jeder Mensch (er)lebt seine eigene Held*innenreise. Und jede Reise verlangt ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Bösen und einen eigenen Umgang damit. Märchen bieten uns mit ihrer Bildsprache gute Möglichkeiten, den Umgang mit dem Bösen zu lernen.

 

Petra Albersmann, Puppenspielerin und Erzählerin, lebt in Hamburg. Seit ihrer Kindheit beschäftigt sie sich mit Geschichten und den kleinen wie großen Fragen des Lebens. Durch die kunstvolle Verknüpfung des Figurenspiels mit der Erzählkunst gelingt es ihr, auch ihre kleinen Zuschauer behutsam an die bedeutenden Themen des Lebens heranzuführen.