Mal über den Tellerrand schauen. Der GJW-Filmtipp.

Es ist niemals gut, nur im eigenen Sud zu brodeln. Und das ist keine Metapher für sommerliches Schwitzen und die damit verbundene Notwendigkeit von Körperpflege. Vielmehr soll es dieses Mal in den Kinotipps um Filme gehen, in denen Menschen über den Tellerrand schauen, etablierte Kategorien in Frage stellen und sich mit dem Unbekannten auseinandersetzen.

Systemfehler – Wenn Inge tanzt
Max (Tim Oliver Schultz) ist Frontmann der Schüler-Band „Systemfehler“, deren beliebtester Hit, „Wenn Inge tanzt“ sich über eine unbeliebte Streberin lustig macht. Doch Inge ist kein bemitleidenswertes Mauerblümchen, sondern kann Max auf mehreren Ebenen das Wasser reichen. Als der Gitarrist von „Systemfehler“ ausgerechnet vor einem wichtigen Auftritt verunglückt, bleibt Max nichts anderes übrig als Inge um Hilfe zu bitten. Denn - nerviger Hippie hin oder her - sie spielt einfach ungewöhnlich gut Gitarre. Doch können sie ihre Konflikte ausreichend bereinigen, um als Team zu funktionieren und die Band zum Erfolg zu bringen?
Sowohl Max als auch Inge haben ein festgefahrenes Bild von ihrem Gegenüber. Beide glauben, genau zu wissen, was in dem jeweils anderen vorgeht und weigern sich, ihre Vorurteile in Frage zu stellen. Doch um die „Band“ zu retten, sind sie plötzlich gezwungen, sich aufeinander einzulassen und beide sind überrascht, was sie dabei entdecken. Vor allem Max ist plötzlich gezwungen, sein Wertesystem in Frage zu stellen.
„Systemfehler – Wenn Inge tanzt“ ist ein locker leichter Jugendfilm mit viel guter Musik und gelungener Komik, der sich auch erwachsene Zuschauer nicht werden entziehen können. In der Darstellung der Jugendkultur bleiben derbe Worte und der gelegentliche Drogenrausch nicht aus. „Systemfehler – Wenn Inge tanzt“ kommt seinem Publikum nicht auf die pädagogische Tour, hat aber gerade dadurch die Chance, Jugendliche ab 14 zu erreichen.

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Jackie – Wer braucht schon eine Mutter?
Sofie (Carice van Houten) und Daan (Jelka van Houten) sind mit zwei Vätern aufgewachsen. Ihre Mutter haben sie nie kennengelernt. Umso überraschter sind die beiden erwachsenen Frauen, als sich Jackie (Holly Hunter) eines Tages meldet. Sie lebt in den USA und ist auf Grund eines Unfalls plötzlich auf familiäre Hilfe angewiesen. Mit gemischten Gefühlen machen sich Sofie und Daan auf die Reise nach Amerika. Dort müssen sie mit Jackie einen Roadtrip unternehmen, um ihre Mutter in eine Reha-Einrichtung zu bringen. Zunächst unnahbar, verschroben, ja vielleicht gar abstoßend, entwickelt sich Jackie mehr und mehr zu einer echten Mutterfigur. Doch dann stellt eine überraschende Nachricht urplötzlich alles in Frage.
Als Sofie und Daan ihrer Mutter das erste Mal begegnen, finden sie eine verwirrte Frau vor, die in ihrem Bus lebt und dazu noch ein Drogenproblem zu haben scheint. Die Töchter müssen erst durch diese Oberfläche blicken, um in Jackie die herzliche Person zu finden, die sie ist. Dabei wartet die größte Herausforderung noch auf sie: Was ist eigentlich eine Mutter? Was macht sie aus? Und ist eine Mutter immer die Person, die uns geboren hat?
„Jackie – Wer braucht schon eine Mutter“ ist ein Roadmovie mit Frauenpower. Sofie und Daan wachsen uns umgehend ans Herz, so dass auch wir nicht warten können, das Mysterium um Jackie endlich aufzulösen. Vielleicht musikalisch etwas zu überladen, vermag dieser Film ebenso zu unterhalten wie zu berühren. Auch wenn „Jackie – Wer braucht schon eine Mutter“ auf die explizite Darstellung von Gewalt und Sexualität verzichtet, ist der Film auf Grund seiner Erzählweise erst für ein Publikum ab 12 Jahren geeignet.

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Just the Wind
Mit seinem Film „Just the Wind“ sorgte Bence Fliegauf bei der Berlinale 2012 für Wirbel. In diesem Film zeigt der ungarische Regisseur auf fast dokumentarische Weise die Lebensrealität der Roma in seinem Heimatland exemplarisch anhand einer Familie, die sein Film über die Dauer eines ganz normalen Tages begleitet. Weil die Gemeinschaft, in der sie leben, wiederholt von gewalttätigen Übergriffen bedroht wurde, leben die Protagonisten in steter Angst. Dennoch arbeitet die Mutter gleich in zwei Jobs, um ihre Kinder zu ernähren und ihnen Bildung zu ermöglichen. Aber Bence Fliegauf will nicht nur unreflektiertes Mitleid erregen. Er zeigt das gesamte Kaleidoskop von Bewältigungsstrategien: Andere Roma wählen auch den Weg der Kriminalität, um der ungeheuren Armut zu entkommen.
In „Just the Wind“ müssen wir als Zuschauer über den Tellerrand schauen. Gerade in den Sommermonaten sind die „Zigeuner“, wie die Roma noch immer abfällig genannt werden, im Straßenbild sehr präsent. Aber welche Geschichte haben sie? Woher kommen sie? Bence Fliegauf kann uns zumindest eine Idee davon geben, welcher Situation diese Menschen entflohen sind.
Der dokumentarische Stil dieses Spielfilms, als würde Fliegauf mit der Kamera reale Protagonisten durch den Tag begleiten, lässt keinen Raum für Erklärungen, weshalb es in diesem Fall unbedingt notwendig ist, den Film mit den Jugendlichen inhaltlich vor- und nachzubereiten. Viele Fragen bleiben offen, beziehungsweise werden durch die Geschichte aufgeworfen. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen bietet der Film eine gute Grundlage für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Thema.

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Sophie Charlotte Rieger (www.filmosophie.com)