Angst vor der Vielfalt

Der GJW-Filmtipp im März

Eine Angst geht um in Deutschland. Eine Angst vor dem Fremden, vor dem Verlust des Eigenen, vor dem Zugeständnis eines Andersseins. Eine Angst, die Werte von Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft zu überlagern droht. Deshalb soll es im Filmtipp für den Monat März um Filme gehen, die dazu animieren, sich mit der Angst vor Vielfalt zu beschäftigen, sie zu hinterfragen und vor allem zu überwinden.

Son of Saul
Wie kann das Unfassbare dargestellt werden? Was wollen und was sollen wir sehen?
Mit Son of Saul findet László Nemes darauf eine ganz neue Antwort. Sein Blick in den Alltag eines KZ-Häftlings ist ein besonders enger, fokussierter, der vieles dem Vorstellungsvermögen des Publikums überlässt, vertrauend darauf, dass die Bilder von Leichenbergen und lebendigen Skeletten ohnehin bereits in jede Netzhaut gebrannt sind. Im 4:3-Format verfolgt Nemes seinen Protagonisten Saul (Géza Röhrig) nahezu in Echtzeit durch die Ereignisse einer Nacht.
Saul findet die Leiche eines Jungen und setzt alles daran, diese mit Hilfe eines Rabbis angemessen beisetzen zu lassen, womit er nicht nur sein Leben, sondern auch das seiner Mithäftlinge mehrfach in Gefahr bringt. Ob es sich bei der Leiche tatsächlich um seinen Sohn handelt, bleibt offen und ist letztlich auch unerheblich. Es geht um einen Akt der Menschlichkeit und Würde an einem Ort der Unmenschlichkeit und Gewalt.
„Son of Saul“ spielt zu einer Zeit, in der die Angst vor Vielfalt besonders schreckliche Ausmaße annahm. Das inzwischen Oscar prämierte Werk fügt sich in eine lange Reihe filmischer Aufarbeitungen des Holocausts und sticht in dieser als besonders intensiv heraus, ohne mit elendsvoyeuristischen Schreckensbildern zu arbeiten. So dient „Son of Saul“ als Ausgangspunkt für Gespräche über das Dritte Reich und die systematische Vernichtung der „Anderen“. Denn was ist denn überhaupt „das Andere“? Wer definiert es und warum? Über das Thema der Vergangenheitsbewältigung heraus bietet László Nemes aber auch einen spannenden medienkritischen Diskurs darüber an, wie wir Geschichten großen Leids vermitteln können, ohne die Opfer als Vehikel der Unterhaltung zu instrumentalisieren.
Offiziell besitzt „Son of Saul“ eine Altersfreigabe ab 12 Jahren. Auf Grund der Intensität der Inszenierung wie auch der ungewöhnlichen Ästhetik, eignet sich dieser Film jedoch vornehmlich für die Arbeit mit Jugendlichen ab 16 Jahren.

Kinostart: 10. März 2016

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Zoomania
Hinter der Fassade eines vergnügten Animationsfilms über ein mutiges Polizei-Kaninchen verbirgt sich eine kindgerechte Vermittlung der Themen Diskriminierung und Ausgrenzung. Eine Mordserie bringt die Fleischfresser unter den Tieren in Diskredit, was zu einer Teilung der Gesellschaft in „gute“ und „böse“ Tiere führt. Als wäre „Zoomania“ für diesen Zweck geschrieben worden (und wer weiß, vielleicht ist das sogar der Fall), erklärt der Film, wie sich Angst und Unsicherheit zu Hass und Ausgrenzung entwickeln, wie eine Völkergruppe (oder eben Tiergruppe) systematisch ihrer Rechte beraubt und als minderwertig eingestuft wird.

In gewohnter Disney-Manier bietet „Zoomania“ dabei generationenübergreifende Unterhaltung und kann Grundschulkinder, Teenager und Erwachsene nicht nur begeistern, sondern auch für seine Themen sensibilisieren. Dabei stellt der Film Vorurteile unterschiedlicher Art in Frage. Der kleinen Heldin Judy Hopps beispielsweise traut niemand eine Karriere bei der Polizei zu und den Respekt ihrer Kolleginnen und Kollegen wie auch Vorgesetzten muss sie sich hart erarbeiten. Auf diese Weise motiviert „Zoomania“dazu, Träume trotz vermeintlicher Hürden zu verfolgen und sich gegen die Fremdbestimmung durch Klischees und Stereotypen zu wehren.
Haben wir auch schon mal gehört, dass wir für einen bestimmten Lebensweg ungeeignet seien? Vielleicht auf Grund unseres Geschlechts, unseres Glaubens oder einer Behinderung? Wie können wir uns von unserem eigenen Schubladendenken lösen? Wie können wir Vorurteile als solche entlarven, um nicht nur offener aufeinander zuzugehen, sondern auch als solidarische, nächstenliebende Gesellschaft zu funktionieren? Welche Ängste haben wir vielleicht selbst gegenüber „Anderen“, Menschen aus uns fremden Kulturen, sozialen Schichten oder Religionen? Wie können wir mit diesen Ängsten umgehen? Oder mal wieder ganz direkt gefragt: What would Jesus do?

Kinostart: 3. März 2016    

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Pelo Malo
Als Mischlingskind mit krausem Haar leidet Junior (Samuel Lange Zambrano) unter seiner Andersartigkeit. Aber es ist nicht nur sein Aussehen, das ihn von den Jungen aus seinem Hochhausviertel in Caracas unterscheidet, sondern auch seine feminine Ader, die Vorliebe für Gesang und Tanz, die vorgegebene Männlichkeitsmuster zu sprengen droht. Und das in einer Gesellschaft, die durch eine Kultur des Machismo geprägt ist. Vor diesem Hintergrund ist die Sorge seiner Mutter vielleicht gerechtfertigt. Sie selbst kämpft täglich ums Überleben in einer Gesellschaft, die sie als Frau missachtet. Als einziges Mittel bleibt ihr die Performanz „männlicher“ Stärke und Überlegenheit, weshalb sie die weiche, feminine Ader des Sohnes weder dulden noch ertragen kann. Den Gegenpol hierzu bildet Großmutter Carmen (Nelly Ramos), die jedoch ebenfalls ein Extrem darstellt, wenn sie Junior nahezu zwingt, sich in die Rolle eines Crossdressers zu fügen.
„Pelo Malo“ erzählt wie auch „Zoomania“ vom Schubladendenken, setzt jedoch andere Schwerpunkte. Der junge Protagonist bietet dabei einem Jugendpublikum ab 14 Jahren durch die Identifikationsfläche Einblick in eine fremde Kultur und mit Sicherheit für viele auch in eine fremde Gesellschaftsschicht. Zugleich existieren zahlreiche Brücken zu unserer eigenen, mitteleuropäischen Lebensrealität, denn vorgefertigte Rollenmuster gibt es hier genauso wie in Venezuela.
Was ist es denn, das von Jungen oder Mädchen erwartet wird? Wie sind die Begriffe „weiblich“ und „männlich“ definiert und können wir uns damit wirklich identifizieren? Wie mag sich ein Mensch fühlen, der sich in keine der vorgefertigten Schubladen einordnen kann oder will? Durch die Darstellung von Armut und Existenznot formuliert der Film darüber hinaus die Frage, inwiefern die freie Selbstentfaltung auch mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängt. Ist Anderssein vielleicht ein Luxus?

Kinostart: 31. März 2016

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Sophie-Charlotte Rieger
www.filmloewin.de