VON NEHEMIA LERNEN?

Hintergrundinformationen zur kunterbunten Box „Eine neue Hoffnung“

von Volkmar Hamp, Referent für Redaktionelles in der GJW-Bundesgeschäftsstelle

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Nehemia ist die Hauptperson der kunterbunten Box. Er ist eine eher unbekannte Gestalt  der biblischen Überlieferung. Dennoch spielt er – zusammen mit Esra – im 5. Jh. v. Chr.  eine herausragende Rolle bei der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil. Insofern  ist es lohnenswert, sich mit ihm zu beschäftigen.

Doch Nehemia gehört in eine ganz bestimmte Epoche der Geschichte Israels. Darum ist es  wichtig, sich diese Geschichte kurz in Erinnerung zu rufen, um das zu verstehen, was die  Bibel von Nehemia erzählt.

Ein kurzer Abriss der Geschichte Israels

Zur Vorgeschichte Israels zählen nach biblischer Darstellung zunächst einmal die Erzählungen um die Erzeltern Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob, Rahel und Lea (1. Mose 12-36) und die Geschichten um Josef (1. Mose 37-50). Sie spielen in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. In die zweite Hälfte dieses Jahrtausends gehören die Geschichten rund um den Exodus, den Auszug der Israeliten aus Ägypten unter Mose, Mirjam und Aaron (2.-5. Mose), und die Besiedelung Kanaans (Jos, Ri).

Historisch Verlässliches lässt sich über diese frühe Zeit kaum sagen. „Kanaan“ war in der späten Bronzezeit (ca. 1550-1250 v. Chr.) eine ägyptische Provinz, die aus mehreren Stadtstaaten bestand. Der früheste außerbiblische Beleg für den Namen „Israel“ findet sich auf einer gegen Ende des 13. Jahrhunderts aufgerichteten Stele und bezeichnet dort eine vom ägyptischen Pharao in Syrien/Palästina besiegte Menschengruppe. In der frühen Eisenzeit (1250-1000 v. Chr.) bricht im Süden „Kanaans“ die Stadtstaatenkultur zusammen und in den unzugänglichen Bergregionen entsteht eine neue, dezentral in „Stämmen“ organisierte, Dorfkultur. In der späten Eisenzeit (1000-600 v. Chr.) entwickeln sich aus diesen „Stämmen“ verschiedene Königreiche.

Damit beginnt auch die eigentliche Geschichte Israels – nach biblischer Darstellung um 1000 v. Chr. mit den Königen Saul, David und Salomo (1. und 2. Sam, 1. Kön). Schon um 926 v. Chr. – unter den Nachfolgern Salomos – sei deren „Großreich“ in ein Nordreich („Israel“) und ein Südreich („Juda“) zerfallen.

Historisch fassbar sind ab dem 9. Jh. v. Chr. im Norden die Dynastien der Omriden (ca. 881-845 v. Chr.) und der Nimschiden (ca. 845-746 v. Chr.) mit ihrer königlichen Residenz in Samaria. Erst im 8. Jh. v. Chr. kann sich das Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem vom Nordreich lösen. Nach der Zerstörung Samarias durch die Assyrer (722/720 v. Chr.) profiliert es sich im 7. Jh. v. Chr. als assyrischer Vasallenstaat.

Das bedeutendste Ereignis in der Geschichte Israels ist die Belagerung und Eroberung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar II. in den Jahren 597 und 587/86 v. Chr. Im Zuge dieser Eroberungen werden Jerusalem und der Tempel zerstört. Die Oberschicht des Volkes wird nach Babylon deportiert. Andere fliehen nach Ägypten. So entsteht sowohl in Babylonien als auch in Ägypten eine jüdische Diaspora (Zerstreuung).

Als der Perserkönig Kyrus 539 v. Chr. den letzten neubabylonischen König Nabonid besiegt und das Altpersische Reich (550-330 v. Chr.) die babylonische Vorherrschaft über Israel beendet, dürfen die Judäer unter der Führung eines Mannes namens Scheschbazzar
(= Serubbabel) aus dem babylonischen Exil in ihre Heimat zurückkehren. Die Tempelgeräte werden zurückgeführt, und die Rückkehrer beginnen mit dem Bau des Zweiten Tempels, der allerdings zunächst nur schleppend vorankommt.

Erst als mit einer zweiten Rückkehrer-Welle um 458 v. Chr. der Priester und Schriftgelehrte Esra zum Anführer der Jerusalemer Juden wird, nimmt der Wiederaufbau der Stadt und des Tempels Fahrt auf. Anstelle eines neuen Königtums führt Esra in Jerusalem das Amt des Hohepriesters ein und verleiht dem Mosaischen Gesetz praktisch den Rang einer „Verfassung“. So sehen spätere Generationen in Esra geradezu einen „zweiten Mose“.

Die zweite zentrale Figur beim Wiederaufbau Jerusalems ist Nehemia. Er ist Mundschenk bei einem von Kyrus‘ Nachfolgern, vermutlich bei Artaxerxes I. (465-424 v. Chr.), und erhält von diesem die Erlaubnis, als Statthalter von Jerusalem (445-433 v. Chr.) den Wiederaufbau der Stadt voranzutreiben. Besonders wichtig ist ihm die Wiederherstellung der Stadtmauer, die er trotz großer Widerstände aus den Reihen der nicht im Exil gewesenen Juden und der nichtjüdischen Bevölkerung des Umlandes vollendet. Entschlossen setzt auch Nehemia sich für Reformen ein und führt so das Werk Esras fort, dem Mosaischen Gesetz wieder Geltung zu verschaffen.

Auch wenn Esra und Nehemia das Königreich Davids nicht wiederherstellen können, sie geben dem jüdischen Volk eine neue Stadt und eine neue Ordnung und damit Zukunft und Hoffnung. Unter der Herrschaft der Griechen (ab 333 v. Chr.) und der Römer (ab 65 v. Chr.) halten die Juden darüber hinaus die Sehnsucht nach einem „Messias“ wach, der irgendwann kommen und das Königreich Davids wieder aufrichten wird. Als Christen glauben wir, dass diese Sehnsucht durch Jesus Christus erfüllt ist, dass in ihm das lang ersehnte „Reich Gottes“ angebrochen ist und irgendwann zur Vollendung kommen wird.

Die Bücher Esra und Nehemia

In christlichen Bibeln finden sich die Bücher Esra und Nehemia unter den Geschichtsbüchern des „Alten Testaments“ (nach den Chronikbüchern und vor dem Buch Ester). Die Titel der Bücher gehen auf die beiden Protagonisten Esra („Gott ist Hilfe“) und Nehemia („JHWH tröstet“) zurück. Im Tanach, der jüdischen Bibel – so genannt nach den Anfangsbuchstaben ihrer drei Teile: Tora (Weisung), Neviim (Propheten) und Ketuvim (Schriften) –, werden sie als ein zusammenhängendes Buch unter den „Schriften“ überliefert. Die Unterteilung in zwei Bücher geht auf die griechische Überlieferung zurück und wurde wohl durch die Überschrift „Bericht Nehemias, des Sohnes Hachaljas“ in Neh 1,1 angeregt. In der alttestamentlichen Forschung werden die beiden Bücher heute in aller Regel als ein Buch behandelt (vgl. Steins).

Inhaltlich geht es in diesem Buch – wie oben angedeutet – um den Neuaufbau Israels nach dem babylonischen Exil. Die Zeitspanne, von der erzählt wird, die „erzählte Zeit“, umfasst 108 Jahre (538-430 v. Chr.). Die „Erzählzeit“, also die Zeit, in der das Buch verfasst wurde, liegt wohl im 4. Jh. v. Chr. (oder später), wobei der Verfasser des Buches vermutlich Zugriff auf ältere Quellen hatte, deren Art und Umfang allerdings in der Forschung stark umstritten ist.

Erzählt wird zunächst (Esra 1-6) von der Zeit der Heimkehr aus dem babylonischen Exil und des Tempelbaus in Jerusalem unter den Perserkönigen Kyrus und Darius (2. Hälfte des 6. Jh. v. Chr.). Es folgt die Zeit der inneren und äußeren Konsolidierung Israels unter Artaxerxes I. (Mitte des 5. Jh.s). In beiden Epochen wird das Geschehen auf jüdischer Seite von einem Führungsduo dominiert, zunächst von Jeschua und Serubbabel (Esra 1-6), dann von Esra und Nehemia (Esra 7 – Neh 13).Strukturiert ist die Erzählung in sechs große Abschnitte, von denen jeweils zwei so aufeinander bezogen sind, dass zunächst von einem Werk des Wiederaufbaus, dann von der Verpflichtung auf das Gesetz oder seiner Durchsetzung erzählt wird. Diese großen Teile sind (nach Steins 335f):

A Esra 1,1 – 6,22 Wideraufbau des Tempels gegen Widerstände

B Esra  7,1 – 10,44 Verpflichtung auf das Gesetz (Bund)

A‘ Neh 1,1 – 7,4 Aufbau der Stadtmauer gegen Widerstände

B‘ Neh 7,5 – 10,40 Verpflichtung auf das Gesetz (Bund)

A‘‘ Neh 11,1 – 12,47 Abschluss der Reorganisation

B‘‘ Neh 13,1 – 13,31 Durchsetzung des Bundes

Mit dem Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels ist hier also ein theologisches Programm verknüpft, das in der Erfahrung des Exils seinen Ursprung hat und für die nachexilische Zeit wichtig wird. Das Esra-Nehemiabuch will also nicht nur als historische Quelle, sondern auch als theologische Deutung der Geschichte Israels, insbesondere der Wiederherstellung des Mittelpunkts des nachexilischen Judentums, Jerusalems und seines Tempels, gelesen werden (vgl. Kaiser 185).

Nach dem Ende des Königtums erfindet Israel sich sozusagen neu. Man hat dafür die Begriffe „Theokratie“ oder „Kultgemeinde“ verwendet, um die zentrale Bedeutung des Tempels für das nachexilische Judentum hervorzuheben. Ein anderer Begriff, „Bürger-Tempel-Gemeinde“ (J.P. Weinberg), betont neben dem zentralen Kultort die Bedeutung des Laienelements und der Selbstverwaltungsorgane für dieses neue Israel. Doch wie immer man es bezeichnet, das Besondere des nachexilischen Gemeinwesens in Judäa war, dass es sich nicht nur ethnisch, politisch und territorial, sondern vor allem religiös definierte (vgl. Albertz 477f).

Unabhängig davon wurde Juda im Zuge dieser Neukonsolidierung zu einer selbständigen Provinz innerhalb der persischen, von einem Statthalter verwalteten Satrapie Transeuphratene (ein hoheitliches Schutzgebiet jenseits des Euphrats). Vermutlich war der „Wiederaufbaukommissar“ Nehemia zugleich der erste Gouverneur dieser Provinz Jehud (vgl. Donner 421f).

Und was hat das mit uns zu tun?

In der christlichen Kirche führen die Bücher Esra und Nehemia eher ein Schattendasein. In der Perikopenordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), den Predigttexten für die sonntäglichen Gottesdienste, kommen sie nicht vor. Im Plan für den Kindergottesdienst der EKD gab es zuletzt 2011 drei Einheiten zum Nehemia-Buch. Deshalb freue ich mich sehr, dass sich nun eine „Kunterbunte Box“ mit Nehemia beschäftigt. Dabei stehen schon durch die Textauswahl (Neh 1-6) die Aspekte der Ausdauer und der gemeinsamen Überwindung von Widerständen im Vertrauen auf Gott im Vordergrund. 

Das ist nicht nur für das nachexilische Judentum ein zentrales Thema der Glaubensunterweisung. Es ist auch für die neutestamentliche Gemeinde in der Nachfolge Jesu von zentraler Bedeutung. Was können wir aus dem Esra-Nehemia-Buch lernen? Vielleicht dies: 

Im Vertrauen auf Gott, in der Verbundenheit mit ihm, in der Besinnung auf seine Weisung und in der Gemeinschaft der Glaubenden finden wir auch in scheinbar hoffnungslosen Situationen und gegen alle Widerstände Hoffnung für die Zukunft und gangbare Wege zur Erneuerung von Gemeinde und Welt.


Zum Weiterlesen

  • Rainer Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Teil 2: Vom Exil bis zu den Makkabäern. Göttingen 1992.
  • Herbert Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba. Göttingen 1986.
  • Israel Finkelstein, Das vergessene Königreich. Israel und die verborgenen Ursprünge der Bibel. 2. Aufl., München 2015.
  • Otto Kaiser, Einleitung in das Alte Testament. Eine Einführung in ihre Ergebnisse und Probleme. 5., grundlegend neubearbeitete Aufl. Gütersloh 1984.
  • Georg Steins, Die Bücher Esra und Nehemia. In: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament. 9., aktualisierte Auflage, hrsg. Von Christian Frevel, Stuttgart 2016, 331-349.