Gut und Böse in der Politik

Von Stephan Groschwitz  |  Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 32-35  |  7:17 MIN  

Dem Bösen geht es gerade wieder besonders gut. Es wird wieder Krieg geführt in Europa, Menschen unterdrückt, Meinungen verboten, die Welt, das Klima und die Wirtschaft an den Abgrund geführt. Es wird gelogen und gehetzt, verschwendet und geheuchelt, was das Zeug hält. Unsere Kultur wird zerstört – wahlweise von Kapitalismus, Eingewanderten, dem allgemeinen Werteverlust oder dem Steuerungswahn des Staates.

Schuld daran? Kommt drauf an! Aber im Grunde immer die anderen. Und die Politik? Unfähig, die wirklichen Probleme zu erkennen und endlich etwas zu tun.

Ich habe einen Großteil meines Lebens mit, in und um Politik verbracht. Als Jugendlicher bin ich in eine politische Partei eingetreten. Mich hat meine (kurze) Kindheit in der DDR, die Erfahrung der „Wende“, der wieder aufflammenden Fremdenfeindlichkeit und Gewalt, der Verzweiflung und Frustration in den „Nachwendejahren“ geprägt. Ich hatte das Gefühl: Es muss etwas geändert werden! Und die „Wende“ hatte gezeigt: Das kann es auch.

Ein paar Jahre später verlagerte ich mein Engagement auf die verbandlichen Strukturen der Evangelischen Jugend. In der Parteipolitik hatte ich mich erschrocken über mich selbst: Ich war leidenschaftlich politisch und bemerkte an mir, dass ich auch unbarmherzig argumentieren und politische Gegner:innen herabwürdigen konnte. Dass ich einen „politischen Standpunkt“ einnahm und mir damit selbst auch den offenen Blick auf die Welt nahm. Ich war auch ideologisch geworden und meinte zu wissen, was (und auch wer und warum) gut und böse war. Ich erinnerte mich – nicht ganz zufällig – an eine Phase ähnlich verbissener – und heute würde ich auch sagen: verblendeter – religiöser Überzeugungen.

In den jugendverbandlichen Strukturen lernte ich eine andere (aber auch nicht „paradiesische“) Art der Politik kennen. Natürlich gab es auch da Fraktionen, Lager, Interessen, ungute Intrigen. Und die Überzeugung, dass die eigene Position die bessere ist. Mir gefiel aber, dass man stärker inhaltlich um „das Gute“ und Richtige streiten konnte. Ohne parteipolitische Schere im Kopf und mit der Unbekümmertheit, die auch dadurch entsteht, nicht für die Umsetzung der Beschlüsse in der Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen und Verantwortung übernehmen zu müssen. Diese Erfahrung aber, in Vorständen und Wahlämtern Verantwortung zu übernehmen, die Geschicke einer Gemeinschaft für eine bestimmte Zeit zu führen und vor allem: Rechenschaft ablegen zu müssen, ist für ein demokratisches Gemeinwesen von größter Bedeutung.

Mit Anfang Zwanzig zog ich für fast ein Jahrzehnt in die USA und erlebte dort unter anderem als Soziologiestudent die Vorstufen der politischen Radikalisierung und Polarisierung, die in dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 nur ihren medienwirksamen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Dafür gibt es viele Faktoren (vor denen wir in Europa übrigens nicht gefeit sind). Für viele Generationen war aber die Übernahme von Verantwortung auf Zeit in Vorständen und Ämtern vielfältiger zivilgesellschaftlicher „Associations“ prägend. Man kann sagen: Es hat das Land zusammengehalten. In den letzten Jahrzehnten haben genau diese politischen und demokratischen Basiserfahrungen stark nachgelassen. Und Forschung zeigt: Unter Trump-Wähler:innen sind diese Erfahrungen deutlich rarer gesät.

Die nachlassende eigene Erfahrung, wie „Politik“ gemacht wird, lässt anfälliger werden dafür, Erzählungen eines Kampfes von Gut gegen Böse Glauben zu schenken. Dazu kommt eine Medienlandschaft, die mit Polarisierung und dem Binden von Aufmerksamkeit durch Aufregung Geld verdient. Aus der Projektion des Kampfes von Gut gegen Böse ist eine Ressource geworden, aus der sich politisches, mediales und wirtschaftliches Kapital gewinnen lässt.

Und sie spaltet die Gesellschaft. Ich habe – gar nicht typisch – noch Freunde, die mit meinen eigenen politischen Überzeugungen nur oberflächliche Überschneidungen haben. Wir leben in vielerlei Hinsicht wirklich in unterschiedlichen Welten. Zum Glück können wir uns einfach entscheiden, nicht über Politik zu sprechen. Zum Glück findet der Kampf um Macht und (Deutungs-)Hoheit noch in der Politik statt.

Seit einigen Jahren arbeite ich nun in einem Bundesministerium. Damit bin ich weit davon entfernt, was viele Freunde und Verwandte sich unter „Politik“ so vorstellen. Und es fühlt sich meist auch gar nicht mächtig an. Meine Aufgabe ist es im Grunde, die von „der Politik“ getroffenen Entscheidungen umzusetzen. Politischer Anspruch trifft dabei auf zahllose Zwänge und Beschränkungen. Unter anderem eine föderale (Verwaltungs-)Wirklichkeit, die im digitalen Zeitalter noch kaum angekommen ist. Zaubern können wir nicht, und was geht, ist einerseits beschränkt durch Gesetze und knappe Mittel, andererseits durch Strukturen, die effizient waren, als das Land per Brief und Fax regiert wurde und Kommunikation entsprechend teuer war.

Ich kann die Frustration vieler Bürger:innen mit „dem Staat“ in vielerlei Hinsicht gut verstehen. Ich hatte ja selbst Probleme beim Ausfüllen meines Elterngeldantrages – und digitalisiert haben den meine Kolleg:innen. Es geht so vieles so langsam voran, so viele Probleme werden nicht – oder nicht schnell genug – gelöst. Wie soll da etwas gut werden?

Well, it`s complicated

Vor allem sollten wir uns klar darüber sein, dass politische Entscheidungen immer schon Kompromisse sind zwischen unterschiedlichen Vorstellungen davon, was gut und auch böse ist. Und das, glaube ich, ist gut!

Vor etwas über 100 Jahren hat der Soziologe Max Weber eine zum Klassiker gewordene Vorlesung zu „Politik als Beruf“ gehalten. Darin hat er zwei wichtige Überlegungen angestellt.

Zum einen beschrieb er die Aufgabe des Staates, das „Monopol legitimer physischer Gewalt“ für sich zu beanspruchen. Das heißt: Konflikte in einer Gesellschaft werden innerhalb des Staates, also politisch, ausgetragen. Und physische Gewalt darf nur der Staat ausüben. Von Carl von Clausewitz ist das geflügelte Wort bekannt, Krieg sei die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Man kann das auch so lesen: Solange wir noch politisch miteinander ringen, können die Waffen schweigen. Kompromisse und das ständige Beißen in den sauren Apfel, heißt meistens für die Beteiligten: Schlimmeres verhindert. Denn politisch getroffene Entscheidungen sind immer auch eine Überwältigung derer, die anders entschieden hätten.

Die andere zentrale Überlegung Webers betraf die Frage, wie ein guter Politiker (die männliche Form bildete auch noch überwiegend die praktische Realität ab) seine Handlungen ethisch ausrichten kann. Seine Unterscheidung zwischen Verantwortungsethik (also die Folgen des eignen Handelns bedenkend) und Gesinnungsethik (also das moralisch als richtig Gesehene zu tun) finde ich sehr aufschlussreich. Sie zeigt auf, dass im politischen Handeln Kompromisse und Abwägungen nicht umgangen werden können. Solange keine vollständige Einmütigkeit darüber hergestellt werden kann, was richtig und falsch, gut und böse, dringend und unwichtig ist – und das ist der Normalzustand in einer Gesellschaft von Menschen –, solange steht jede:r politisch handelnde Mensch (nicht nur der:die Politiker:in) vor der Frage, ob und vor allem welche Kompromisse ethisch geboten sind. Wollen wir – auf „Teufel komm raus“ – auf unserer Weltsicht bestehen und damit entweder andere oder uns selbst unterwerfen, oder denken wir vom Ergebnis her und verraten dabei vielleicht unsere eigenen Prinzipien? Eine richtige Antwort darauf gibt es nicht. Wir können aber daraus lernen, dass Politik im Kern eine zivile Technik des Kompromisses und des Ausgleichs, der Vermeidung noch heftiger Konflikte darum ist, was wahr und falsch, gut und richtig ist. Das Gute, das wir durch Politik erreichen können, ist vor allem, Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen (größtenteils) friedlich auszutragen.

Diese Betrachtungsweise kann höchst unbefriedigend erscheinen angesichts der Herausforderungen, die vor uns liegen. Wie – um nur einige meiner Sorgenpunkte zu benennen – können wir die Klimakrise lösen, wenn wir uns noch immer viel zu langsam und zögerlich an den Umbau unserer Wirtschaft machen und unsere Autos und so viele andere Privilegien nicht aufgeben möchten? Wie können wir glaubhaft vertreten, für Menschenrechte einzustehen, wenn wir unsere Energiebedarfe bei autoritären Regimen decken?

Im gleichen Jahr wie Max Webers „Politik als Beruf“ veröffentlichte Martin Buber unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und der politischen und gesellschaftlichen Turbulenzen der Zeit den Essay „Was ist zu tun?“. In den Eingangsworten beantwortete er diese Frage so:

„Wer diese Frage stellt und damit meint: ‚Was hat man zu tun?‘ – für den gibt es keine Antwort. ‚Man‘ hat nichts zu tun, Man kann sich nicht helfen, mit Man ist nichts mehr anzufangen, mit Man geht es zu Ende. Wer sich damit genug tut, zu erklären oder zu erörtern oder zu fragen, was Man zu tun habe, redet und lebt ins Leere. Wer aber die Frage stellte, den Ernst einer Seele auf den Lippen und meint: ‚Was habe ich zu tun?‘ – den nehmen Gefährten bei der Hand, die er nicht kannte und die ihm alsbald vertraut werden, und antworten (er lauscht, was Wundersames da kommen mag, und ist erstaunt, als nichts anderes folgt denn dies): ‚Du sollst dich nicht vorenthalten.‘“

Mir scheint Buber hier eine Lösung aufzuzeigen dafür, wie wir das Gute im Zusammenspiel mit der Politik verwirklichen können. Die Frage nach der Politik ist immer auch eine Frage danach, was „Man“ zu tun habe. Was andere, die Gesellschaft insgesamt zu tun hat. Daneben sollte die Frage lauten: Was habe ich zu tun? Was haben wir zu tun? Was ist uns angetragen?

Als jemand, der viel mit Politik zu tun hat, versuche ich, in meinem Verantwortungsbereich offen zu sein und mich nicht nur auf das Anwenden von Regeln und Ansagen zu beschränken. Ich versuche, die Sichtweisen und Zwänge anderer zu verstehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Als Zahnrad in der Maschine auch Mensch zu bleiben.

Als Bürger, Freund oder Fremder versuche ich das auch. Ich glaube, es liegt eine wirkliche Kraft darin, in jedem Moment ernst zu fragen: „Was habe ich zu tun?“ – und mich von anderen dann bei der Hand nehmen zu lassen.

Das bedeutet auch politisches Engagement im klassischen Sinne. Es bedeutet aber auch, mit anderen – und vielleicht besonders mit denen, die anders leben und wahrnehmen – Gemeinschaft zu bauen und Welt zu gestalten, noch bevor wir in Konflikt geraten. Das ist es vielleicht auch, was Paulus meinte, wenn er uns dazu aufrief, „das Böse mit Gutem zu überwinden“
(Römer 12,21).

  

Stephan Groschwitz hat einiges ausprobiert. Er kann seinen eigenen Fallschirm packen, strickt gern (aber zu selten) und hat im Pfeife rauchen Wettkämpfe gewonnen. Sein neustes Projekt ist es, sich von seiner Tochter beibringen zu lassen, was wirklich wichtig ist im Leben.