Das „Böse“ im palästinensisch-israelischen Konflikt

Oder: Warum der Konflikt bisher nicht lösbar war

Von Merle Hofer  |  Erschienen in HERRLICH 01|2023, Seiten 36-37  |  4:06 MIN  

„Ich habe gehört, Sie wollen in komische Länder fliegen?“
Mit diesen Worten begrüßt mich eine Frau, der ich zuvor noch nie begegnet bin. Über Weihnachten bin ich zu Besuch bei meinen Eltern in Deutschland. Anfang Januar muss ich mich ungeplant einer kleinen Operation am Backenzahn unterziehen. Dafür überweist mich die örtliche Zahnärztin zur Kieferchirurgie in die nächstgelegene Stadt.

Verwundert schaue ich die Chirurgin an. Offenbar hat ihr die Assistentin berichtet, dass ich in Israel lebe und demnächst wieder dorthin möchte.

„Komisch ist ja immer relativ“, entgegne ich vage. So zaghaft ich bin (mein Zahn tut weh!), so resolut antwortet sie: „Bei Ihnen ist ja permanent Krieg!“

Erneut bin ich verwundert und versuche abzuschwächen: „Das würde ich nicht unbedingt so sagen. Vielleicht kommt das hier in den Medien so rüber, aber …“

Sie unterbricht mich: „Das habe ich aber ganz anders gehört.“ Sie fordert mich auf, meinen Mund weit zu öffnen und haut mir drei betäubende Spritzen in den Oberkiefer (aua!). Währenddessen erklärt sie mir, was in den nächsten Minuten passieren wird.

So schnell sie kam, so schnell ist sie auch wieder verschwunden. Erneut setze ich mich in einen Warteraum und werde wenige Minuten später in den OP-Raum gerufen. Die Schwester bereitet alles vor. Auf dem Zahnarztstuhl denke ich darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass ich hier liege. Klar, der Zahn hat eine längere Geschichte und auch mein Wohnort Jerusalem spielt darin eine Rolle. Aber davon weiß die Ärztin doch nichts!

Schwupps ist sie wieder da und bittet mich erneut, den Mund weit zu öffnen. Ohne, dass sie mich fragt, warum ich in Israel lebe, was ich dort tue, welche Qualifikationen oder Einstellungen ich habe oder ob ich mit Juden oder Arabern in Kontakt bin, setzt sie Ihr Gespräch fort. „Wissen Sie, ich bin ja ganz klar parteiisch.“ „Aha“, keuche ich. „Der Freund meiner Freundin ist nämlich Palästinenser.“ „Ach, daher weht der Wind!“, denke ich, quetsche aber erneut lediglich ein „Aha!“ heraus. Sie erzählt unbeirrt weiter: „Und die haben ja überhaupt keine Rechte.“ Ich keuche wieder: „Aha.“ „Ja, das ist fies, nicht? Sie können mir jetzt nur schwer widersprechen!“ Ich tue so, als wäre ich über die Situation völlig erhaben „Chain choblem“, stammele ich, und versuche verkrampft, möglichst lässig zu wirken.

Meine Reaktion scheint sie aber ohnehin nicht zu interessieren: „Wissen Sie, was da in Israel passiert, ist ganz furchtbar. Der eine Teil der Bevölkerung darf alles, und die Palästinenser müssen jeden Tag ganz schlimme Dinge ertragen.“ Mir wird langsam klar, dass das die denkbar schlechteste Situation ist, eine ausgewogene Diskussion zu führen, immerhin wird die Frau da über mir gleich das Messer an mich legen. Trotzdem puste ich mit gefühlt angeklebter Zunge „Woha komt enn Ihr Froind? Ist er Israeli oda Palästinenser?“ „So genau weiß ich das nicht. Er ist ja nicht mein Freund, sondern der Freund meiner Freundin. Aber was er immer wieder erzählt, was die dort erdulden müssen, ist wirklich schlimm. Und Israel bekommt so viel finanzielle Unterstützung aus aller Welt, auch aus Deutschland.“

Mit weit aufgesperrtem Kiefer, in dem neben Sauger und Skalpell auch noch viele fremde Finger stecken, beschließe ich endgültig, dass dies nicht der richtige Moment ist, um zu widersprechen. Die Ärztin erzählt indes einfach weiter. Von ihren schönen Urlauben in Tel Aviv (an die beeindruckte Schwester gewandt: „Sollten Sie auch mal hinfahren!“), dem schönen Strand, dem leckeren Essen und von den vielen Elektrorollern dort.

Was diese Episode mit „dem Bösen“ zu tun hat? Nun, sie ist nur ein Beispiel von vielen, die mir in den vergangenen Jahren vielmals begegnet sind. So oft treffen Menschen mit vorgefertigten Meinungen aufeinander, ohne die Bereitschaft, einander zuzuhören und eigene „Erkenntnisse“ infrage zu stellen.

Ohne die Umstände der Herkunft ihres Bekannten näher zu kennen, ergreift die Ärztin Partei. Für sie ist klar: „Palästinenser sind Opfer, Israelis die Täter“. Ihr – beziehungsweise ihrem palästinensischen Freund – ist ein Dorn im Auge, dass Deutschland an Israel „so viele Gelder“ zahlt.

Ob sie dabei die Arbeit der politischen Stiftungen, Austauschprogramme für Schüler, Studenten und Wissenschaftler oder gar die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ an Menschen meint, die durch die Ereignisse des Holocaust stark gelitten haben und bis heute leiden, ist mir nicht bekannt.

Ich frage mich, warum sie ausgerechnet die Zahlungen an Israel, nicht aber die an die Palästinenser, anspricht. Wird neben manch sinnvollem Projekt nicht vor allem „das Böse“ gefördert, wenn Palästinenser immense Summen europäischer Steuerzahler etwa für Renten an verurteilte Terroristen nutzen? Und wenn die Europäer stillschweigend darüber hinwegsehen, dass die palästinensische Führung nicht demokratisch legitimiert ist und in ihren Gesetzen zudem verzeichnet ist, dass in ihrem Hoheitsgebiet auf Landverkauf an Juden die Todesstrafe steht?

Warum ist der Ärztin – beziehungsweise ihrem Bekannten – zweifellos klar, wer hier die „Guten“ und wer die „Bösen“ sind, wer die „Opfer“ und wer die „Täter“? Warum ist eine Ärztin in Deutschland der festen Überzeugung, Palästinenser hätten in Israel „überhaupt keine Rechte“?

Sie selbst macht offensichtlich nicht einmal einen Unterschied zwischen Palästinensern und arabischen Israelis. Erstere sind Bewohner der palästinensischen Gebiete mit eigener Verwaltung, letztere Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft, die, den Juden gleich, alle Rechte haben – nicht aber alle Pflichten. Dass um die Umsetzung ihrer Rechte in der Praxis trotzdem öfter gerungen werden muss, als das für Teile der Mehrheitsbevölkerung nötig ist, ist kein Randphänomen in Israel, sondern gilt für jedes freie Land der Welt, in dem es Mehr- und Minderheiten gibt.

Um ein klares Bewusstsein zu schaffen, braucht es zwei Seiten, die miteinander sprechen. Es braucht Menschen, die genau hinhören, und Staaten, die ihre Steuergelder an Bedingungen knüpfen. Solange dies nicht der Fall ist, ist kein Ende des Konflikts in Sicht und „das Böse“ kann weiterhin seinen Lauf nehmen.

Die Wunde in meinem Oberkiefer ist inzwischen verheilt, und längst kann ich wieder mit Freude essen und sprechen. Doch eine Narbe erinnert mich öfter an die unerwartete Begegnung im Chirurgenzimmer. Um sich ein eigenes, realistisches Bild machen zu können, würde ich der Ärztin gern drei Empfehlungen geben: „Erstens: Zuhören. Zweitens: Fragen stellen. Drittens: Sich selbst und das eigene Bild immer wieder kritisch hinterfragen.“ Das gilt vielleicht nicht in jedem Fall auf dem Zahnarztstuhl, doch im Leben – und im sogenannten „Nahostkonflikt“ – hilft diese Einstellung definitiv weiter. Und sie führt in der Folge dazu, „bösen Informationen“, die auf Neudeutsch häufig als „Fake-News“ bezeichnet werden, nicht bedingungslos auf den Leim zu gehen.

 

Merle Hofer lebt seit 2013 in Jerusalem und berichtet für das Nachrichtenportal israelnetz.com . Vorher hat sie ihren Abschluss in Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Universität Hamburg absolviert und unzählige Stunden investiert, um die arabische Sprache zu lernen.